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Wir müssen vergessen

    Wer sich nicht mehr daran erinnern kann, wo der Autoschlüssel ist oder wann Tante Emma Geburtstag hat, ist noch lange kein Fall für den Arzt. Alltägliches zu vergessen, ist harmlos und sogar wichtig, sagen Experten. Denn es entspannt unser Gehirn.
    Der Mann kommt nach Hause, doch statt eines Straußes roter Rosen trägt er nur seinen Aktenkoffer unterm Arm. Als seine Frau den Tränen nahe ist und enttäuscht in die Küche geht, versteht er die Welt nicht mehr. Erst später dämmert es ihm: Er hat den Hochzeitstag vergessen.

    Wer kennt es nicht, wir vergessen Geburtstage, Termine, mitunter sogar die Namen von Menschen, die uns nah sind. „Wir vergessen viel mehr, als wir uns erinnern. Das hat etwas unglaublich Befreiendes“, sagt der niederländische Psychologe Prof. Dr. Douwe Draaisma.

    Genau genommen entsteht das Vergessen bereits bei der Informationsaufnahme. Positives wird eher gemerkt als Negatives, Nützliches bleibt eher im Gedächtnis als Unwichtiges. „Im Gehirn werden dauernd neue Verbindungen geknüpft und alte gekappt. Da muss es nicht erstaunen, dass Wissen einfach verschwindet. Wir können uns schließlich auch nicht mehr daran erinnern, welchen Pullover wir trugen, als Prinzessin Diana starb“, sagt der Experte.

    Bereits im Jahr 1885 veranschaulichte der deutsche Psychologe Dr. Hermann Ebbinghaus anhand seiner Vergessenskurve die Kurzlebigkeit von Erinnerungen. Schon nach 20 Minuten sind 45 Prozent der Inhalte vergessen, am nächsten Tag erinnern wir uns an ein Drittel und nur 15 Prozent bleiben dauerhaft im Gehirn. „Je mehr Vorwissen das Gehirn zu einer Sache hat, desto leichter erinnern wir uns an neue Informationen. Im Bereich, in dem wir Experten sind, gelingt das am leichtesten. Inhalte, die an kein Vorwissen andocken, werden vergessen. Es ist ein Grundprinzip des Lernens, dass nicht nur der Inhalt ins Gedächtnis gebracht werden muss, sondern vor allem der Weg dorthin. Deshalb ist Auswendiglernen sinnlos“, erklärt der Linzer Psychologe Dr. Werner Stangl und ist überzeugt: „Vergessen ist überlebenswichtig.“ Denn was im Laufe eines Tages an Informationen hereinkommt, müsse erst einmal „selektiv reduziert werden“, meint der Experte. Andernfalls müssten wir alle Sinneseindrücke im Gedächtnis behalten. Es gebe nur wenige Menschen, die nichts vergessen und sich an jede Kleinigkeit in ihrem Leben erinnern können, meint der Experte. Ein Beispiel seien Menschen mit dem sogenannten „Savant-Syndrom“, auch Inselbegabung genannt. „Sie erleben die Negativ-Seite des Nicht-Vergessen-Könnens“, sagt der Linzer.

    Das sei eine unglaubliche Belastung, betont auch Draaisma in seinen Forschungen. „Die Menschen werden ständig von ihren Erinnerungen überflutet, sodass sie kaum fähig sind, den Alltag zu meistern“, erklärt der Psychologe. Um leistungsfähig zu bleiben, brauche unser Gehirn auch Verschnaufpausen. Also Leerläufe. Und die gelingen am besten mit dem Vergessen.

    Doch nicht nur Namen oder Termine werden vergessen. Überall im Alltag schleicht sich das Vergessen ein. Und kann mitunter durchaus lästig werden. Etwa dann, wenn immer wieder die Postkarten in der Handtasche vergessen werden, anstatt sie endlich in den Briefkasten zu werfen. Eine Erklärung für das alltägliche Vergessen liefert der Schweizer Psychologe Dr. Theodor Itten. „Gerade Alltägliches verblasst unglaublich schnell, weil sich viele Tage gleichen und wir nicht immer völlig bei der Sache sind“, sagt Itten. Der Psychologe spricht von einem „Autopiloten“ unseres Gehirnes. Gehen wir immer wieder den gleichen Weg zur Arbeit, dann geht das Gehirn nicht jeden Tag mit uns denselben Weg durch, sondern ist mit anderen Dingen beschäftigt. Wir denken an den Urlaub, unsere Freunde oder ein Problem, das wir lösen möchten. Wir grübeln. Und vergessen dabei den Brief, den wir schon seit Tagen aufgeben wollten. Das Vergessen ist eine wichtige Eigenschaft des Menschen, ist Itten überzeugt: „Es schafft Raum, um sich mit Neuem zu beschäftigen und im Hier und Jetzt zu leben.“

    Das Vergessen ist demnach genauso wichtig wie die Erinnerung selbst. Und ältere Menschen tun sich damit schwerer als junge, fanden deutsche Forscher heraus. In einem Experiment wurden jungen und älteren Menschen Bildreihen auf einem Computer gezeigt, die sie sich merken sollten. Mit der Entschuldigung, das Gerät sei defekt, wurden sie aufgefordert, eine Bildreihe zu vergessen. Sie sollten sich stattdessen neue Bilder merken. Die älteren Versuchspersonen konnten die alten Bilder jedoch nicht löschen, sie merkten sich beide Reihen gleich „schlecht“. Die Forscher schlossen daraus, dass sich ältere Menschen deshalb schlechter erinnern würden, weil sie weniger gut vergessen konnten. Ein anderer Versuch mit Kindern zeigte, dass sich diese besonders gut dabei anstellten, Dinge zu vergessen. Sie handelten frei nach dem Motto: Wenn ich das ganz fest vergesse, merke ich mir das andere. Und es gelang ihnen.

    Auf diese Weise ist das Vergessen, solange es nicht aufgrund einer Krankheit oder neuronalen Störung auftritt, „immer harmlos“, wie Dr. Stangl betont. Und manchmal mitunter sogar ein Segen. Nicht umsonst fühlen wir uns gerade dann äußerst wohl, wenn wir alles um uns herum vergessen können.

    Quelle: DIE GANZE WOCHE Ausgabe Nr. 08/2015 vom 17.02.2015,





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