Von Michael Leitl
Während eines entspannten Laufs durch die Wiesen, der Pulsmesser zeigt 120 Schläge pro Minute, durchbricht jäh lautes Bellen die Stille. Ein Hund stürzt auf den Läufer zu, die ungeschützten Waden im Blick. Wenige Wimpernschläge später passiert Folgendes: Der Pulsmesser schlägt laut piepend Alarm, weil das erschreckte Herz anfängt, wie wild zu schlagen. 170 Schläge pro Minute. Ein Puls wie beim Sprint.
Stress macht den Körper bereit zu Flucht oder Kampf, versetzt ihn urplötzlich in Alarmzustand. Wichtige Lebensfunktionen wie Pulsschlag, Durchblutung und Energiefreisetzung werden auf Höchstleistung getrimmt.
Diese Reaktion auf Belastungen beschrieb der in Kanada forschende Mediziner Hans Selye 1936 erstmals mit dem Wort Stress (Englisch für Druck oder Belastung). Bis dahin hatte es es den Begriff nur in der Geologie gegeben. Dort bezeichnet er den Druck, der auf Erdplatten ausgeübt wird. Selye gilt als Vater der Stressforschung und beschrieb detailliert, wie Stress entsteht.
Die Belastung kann ganz unterschiedliche Ursachen haben. Während bei unseren Vorfahren Angriffe durch wilde Tiere oder die Sorge um fehlende Nahrung Stress auslösten, sind es im Arbeitsalltag undurchsichtige Geschäftsabläufe, Unterforderung durch Monotonie, schlechte Vorbereitung oder Konflikte zwischen Arbeit und Familie.
Die Belastung entstehe, weil es keine Lösungsstrategie für das Problem gebe, so der Linzer Psychologieprofessor Werner Stangl. Stress kann sogar unbewusst entstehen, etwa durch Dauerstressauslöser wie Lärm, schlechte Beleuchtung – oder instabile Computerprogramme.
Stress ist jedoch nicht per se schlecht. Je nachdem, ob die Belastung zu einem Erfolg oder einem Misserfolg führt, empfinden die Menschen Stress als angenehm oder unangenehm. Selye nannte diese beiden Empfindungen Eustress und Disstress.
Belastung wirkt belohnend, wenn zum Beispiel eine Aufgabe erfolgreich erledigt wurde. Sie wirkt aber auch fördernd – etwa beim Lernen. Hirnforscher Manfred Spitzer bezeichnet Stress als eine unverzichtbare Reaktionsweise unseres Körpers. Wichtig ist nur, dass nach der Belastung eine Phase der Entspannung folgt.
Denn: Die Evolution hat den Stress als Vorbereitung auf Extremsituationen hervorgebracht. Entsprechend große Energiereserven werden mobilisiert. Da wir nicht mehr vor Wölfen flüchten, sondern allenfalls adrenalinschwangere Verhandlungen oder Termindruck aushalten müssen, bleibt nach dem Stress ein Energieüberschuss. Der muss wieder abgebaut werden. Passiert das nicht, arbeitet der Mensch also unter ständiger Höchstleistung, entstehen Beschwerden. Sie beginnen bei Kopfschmerzen und anderen körperlichen Symptomen und können bis zu psychischen Störungen wie Depressionen führen.
Dauerstress ist heute bereits bei vielen Menschen ein Normalzustand. Das französische Institut IFAS (Institut Français d’Action sur le Stress) untersucht seit 1998 gemeinsam mit französischen Unternehmen die Ursachen von Stress und befragte Tausende von Mitarbeitern. Die Wissenschaftler fanden heraus: In Unternehmen leidet jede dritte Frau und jeder vierte Mann an einem riskant hohen Stressniveau.
Quelle: Harvard Businessmanager 8/2007