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Die Arithmetik des Lernens

    Vor 100 Jahren starb der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus

    Von Martin Koch

    Was geschieht in unserem Gehirn, wenn wir etwas vergessen? Hierüber gibt es im Wesentlichen zwei Theorien. Nach der sogenannten Theorie des Spurenverfalls werden einmal gebildete und später nicht mehr genutzte Gedächtnisspuren mit der Zeit immer schwächer, bis sie schließlich ganz verschwinden. Dagegen besagt die Interferenztheorie, dass alte Gedächtnisspuren durch neue Eindrücke lediglich überschrieben werden. Die alten Erinnerungen gehen damit zwar nicht verloren, sind aber normalerweise dem bewussten Zugriff entzogen.

    Auf jeden Fall muss ein Mensch vergessen können, um in seinem Gehirn gleichsam Platz zu schaffen für neue Gedächtnisinhalte. Allerdings unterliegen auch diese sofort dem Verschleiß. Will sagen, der Prozess des Vergessens ermöglicht das Lernen nicht nur, er behindert es zugleich.

    Der erste Wissenschaftler, der diesen Zusammenhang genauer untersucht hat, war 1880 der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus, der in der Stille seines Arbeitszimmers Listen von sinnlosen Silben auswendig lernte. Die Silben hatte er zuvor aus zwei Konsonanten und einem Vokal gebildet – zum Beispiel: BUP, MEQ, ZOR. Nach dem Lernen ließ er einige Zeit verstreichen; dann überprüfte er, wie gut er die Silbenfolgen wiedergeben konnte. Ergebnis: Nach 20 Minuten hatte Ebbinghaus bereits 40 Prozent des Gelernten vergessen. Nach einer Stunde waren es 55 Prozent, nach einem Tag 65 und nach einer Woche über 75 Prozent. Die daraus abgeleitete »Vergessenskurve«, die Ebbinghaus 1885 erstmals publizierte, ist in ihrer Struktur bis heute gültig. Danach wird Gelerntes am Anfang schnell und dann immer langsamer vergessen, bis sich zuletzt eine Art Sättigungswert einstellt, der bei etwa 20 Prozent liegt. Das heißt, im Schnitt gehen 20 Prozent der einmal gelernten Informationen ins Langzeitgedächtnis über.

    Als Sohn eines Unternehmers wurde Hermann Ebbinghaus am 24. Januar 1850 in Barmen geboren. Er studierte Philosophie in Bonn und später Mathematik und Naturwissenschaften in Berlin. Die Ergebnisse seines oben beschriebenen Selbstversuchs legte er 1880 in einer Habilitationsschrift nieder, zu deren Gutachtern kein Geringerer als Hermann von Helmholtz gehörte. Anschließend richtete Ebbinghaus in Berlin ein Laboratorium für experimentelle Psychologie ein, in dem er vorrangig das menschliche Gedächtnis erforschte. 1894 wechselte er an die Universität Breslau und entwickelte hier den ersten Leistungstest zur Intelligenzmessung von Kindern. Von 1905 bis zu seinem Tod am 26. Februar 1909 lehrte Ebbinghaus an der Universität Halle.

    So wichtig die von ihm entdeckte Vergessenskurve für die Gedächtnisforschung auch war, sie hatte einen entscheidenden Nachteil: Sie resultierte nicht aus einer realen Lernsituation. Denn in der Realität hängt die Rate des Vergessens maßgeblich von der Art des Lernstoffs sowie der emotionalen Befindlichkeit des Lernenden ab. Neuere Experimente haben gezeigt, dass Menschen, die sich einen sinnvollen Text einprägen mussten, nach sechs Tagen noch rund 53 Prozent des Inhalts korrekt wiedergeben konnten. (Zum Vergleich: Ebbinghaus kam nur auf 23 Prozent.)

    Im Allgemeinen gilt, dass neue Informationen im Gehirn besser haften, wenn es gelingt, sie in Beziehung zu bereits vorhandenen Wissensbeständen zu setzen. Gelingt dies nicht, fallen sie relativ schnell durch das Gedächtnisnetz. Aus diesem Grund ist das sture Pauken von Sachverhalten keine gute Lernstrategie. Erst wenn man die entsprechenden Lerninhalte semantisch durchdringt, also in ihrer Bedeutung erfasst, kann man sie in das vorhandene Wissen integrieren und bei der Lösung ähnlicher Probleme anwenden.

    Darüber hinaus gibt es noch andere Möglichkeiten, dem raschen Vergessen entgegen zu wirken. Viele Psychologen schwören auf das sogenannte Überlernen (engl.: Overlearning). Damit ist gemeint, dass jemand einen Lernstoff umso fester in seinem Gedächtnis verankert, je mehr Durchgänge des Lernens er absolviert. Bleibt die Frage, zu welchem Zeitpunkt eine Wiederholung des Lernstoffs am effektivsten ist. Denn schon Ebbinghaus konnte nachweisen, dass Personen, die einen Stoff nur so lange lernten, bis sie ihn gerade beherrschten, am nächsten Tag keine schlechtere Erinnerung daran hatten als Personen, die mehrere Lerndurchgänge unmittelbar hintereinander absolvierten. »Mit massierten Wiederholungen im Anschluss an eine Lernphase können wir die Vergessenskurve nicht überlisten«, meint der Linzer Psychologe Werner Stangl und empfiehlt stattdessen, das einmal Gelernte für ein paar Stunden ruhen zu lassen, um es dann konzentriert zu rekapitulieren. Wiederholt man diesen Prozess mehrmals, wird der größte Teil der Informationen zuverlässig im Langzeitgedächtnis gespeichert. Es ist infolgedessen nicht ratsam, bei einer bevorstehenden Prüfung an einem Tag den gesamten Stoff zu büffeln, da hierbei die Vergessensverluste besonders hoch sind.

    Mit dem Alter, sagt man, lässt beim Menschen das Gedächtnis nach. Allerdings steckt in diesem Prozess nichts Schicksalhaftes, wie ein Forscherteam um den US-Neuropsychologen Yonas Geda jetzt in einer Studie gezeigt hat. Daran nahmen 1300 Frauen und Männer zwischen 70 bis 89 Jahren teil, von denen knapp 200 unter Gedächtnisschwäche litten. In einer Befragung mussten alle Probanden angeben, womit sie sich im Alter von 50 bis 65 Jahren besonders beschäftigt hatten. Die erhobenen Daten legen die Vermutung nahe, dass Menschen, die ab 50 häufig Zeitungen und Bücher lesen, Karten spielen oder am Computer tätig sind, die Gefahr einer späteren Gedächtnisschwäche um 30 bis 50 Prozent reduzieren. Und noch etwas beugt nach Meinung der Forscher einem Erinnerungsverlust vor: weniger als sieben Stunden fernsehen – pro Tag! Doch welcher ältere Mensch in Deutschland sitzt schon so lange vor der Glotze.

    Quelle: Neues Deutschland vom 28.2.2009
    WWW: http://www.neues-deutschland.de/artikel/144672.die-arithmetik-des-lernens.html (09-02-28)






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