Die natürliche Ausrichtung des Blicks führt häufig zu einem Netzhautbild, das aufgrund der Okulartorsion relativ zum Raum gedreht ist, d. h., man nimmt trotz visueller Drehbewegung auf der Netzhaut weder diese Drehung noch eine sich bewegende Welt wahr. Diese Wahrnehmungsstabilität wird oft dem Phänomen des prädiktiven Remapping zugeschrieben. Am Wahrnehmungsphänomen der Raumstabilität sind aber mehrere Prozesse beteiligt. Zum einen wird das Sehen bei einer raschen Augenbewegung aktiv unterdrückt, d. h., man ist in dieser Zeit zwar nicht ganz blind, aber Prozesse im Gehirn führen dazu, dass manche Neuronen währende der Bewegung weniger aktiv sind, als wenn man einen Gegenstand in Ruhe betrachtet. Studien zeigen, dass Neuronen in bestimmten Gehirnarealen die Auswirkung von Sakkaden auf den Seheindruck gewissermaßen antizipieren. Das rezeptive Feld einzelner Nervenzellen reagiert immer nur auf einen kleinen Bereich des Gesichtsfelds und erst die Summe aller Neuronen deckt das ganze Gesichtsfeld ab. Aus Tierexperimenten (Morris & Krekelberg, 2019) weiß man, dass manche Zellen im Scheitellappen der Großhirnrinde ihr rezeptives Feld bereits vor Beginn einer Sakkade an ihren neuen Ort im Raum verlagern, d. h., sie können gewissermaßen in die Zukunft sehen und die Neuronen antworten schon kurz vor dem Blicksprung auf Reize an dem Ort, für den sie eigentlich erst später empfindlich sein sollten. Wahrscheinlich trägt dieser Prozess entscheidend zum Phänomen der Raumstabilität bei. Vermutlich verrechnet das Gehirn permanent die Position des Bildes auf der Netzhaut mit der Position der Augen im Kopf, sodass eine solche Codierung relativ stabil zur Lage des Kopfes oder des restlichen Körpers ist. Murdison et al. (2019) stellten ebenfalls fest, dass die Orientierungswahrnehmung weitgehend durch das rotierte Netzhautbild vorhergesagt wurde, und beobachteten ein präsakkadisches Remapping der Orientierungswahrnehmung, das mit der Aufrechterhaltung einer stabilen aber räumlich relativ ungenauen retinozentrischen Wahrnehmung während der gesamten Sakkade konsistent war. Diese Befunde deuten darauf hin, dass die nahtlose Wahrnehmungsstabilität auch von retinozentrischen Signalen abhängt, die bei jeder Sakkade prädiktiv in allen drei Okulardimensionen neu abgebildet werden.
Bei der sensorische Verarbeitung von Umweltreizen sieht die prädiktive Kodierung vor, dass eingehende Signale iterativ mit Top-down-Vorhersagen entlang eines hierarchischen Verarbeitungsschemas verglichen werden. Bei jedem Schritt werden also Fehlersignale, die sich aus den Unterschieden zwischen den tatsächlichen Eingaben und den Vorhersagen ergeben, weitergeleitet und durch die Aktualisierung interner Modelle immer wieder minimiert, um schließlich wegerklärt zu werden. So machen etwa die Augen bei der Fixation von Objekten pro Tag weit mehr als hunderttausend schnelle Blicksprünge, wobei das Gehirn bei einem Verweilen der Augen an einem Punkt bereits nach etwa hundert Millisekunden mit Vorhersagen beginnt.
Da die neuronalen Mechanismen, die solchen Berechnungen zugrunde liegen, und ihre Grenzen bei der Verarbeitungsgeschwindigkeit noch weitgehend unbekannt sind, haben Staadt et al. (2020) diese untersucht, indem Versuchspersonen kurz der Überlagerung von zwei orthogonal orientierten Gittern ausgesetzt wurden, gefolgt von der abrupten Entfernung einer Orientierung nach entweder 33 oder 200 Millisekunden, sodass dann nur eines der Gitter zu sehen war. Die Aufgabe bestand darin, anhand eines Testreizes zu berichten, welche Orientierung das zuletzt gesehene Gitter hatte. In den meisten Fällen berichteten die Probanden wie zu erwarten korrekt die zuletzt gezeigte Orientierung, doch in einigen Fällen berichteten die Probanden selten, aber hochsignifikant von einer illusorischen Wahrnehmung der arithmetischen Differenz zwischen der vorherigen und der aktuellen Orientierung. Diese Ergebnisse zeigen, dass das Sehsystem sowohl Informationen über vergangene, aktuelle, als auch über mögliche zukünftige Bildinhalte auf kurzen Zeitskalen bereithält, um rasch auf wechselnde Bildfolgen vorbereitet zu sein, wobei diese vorausschauende Strategie zugleich Stabilität und Flexibilität gewährleistet. Das gelegentliche Auftreten einer Vorhersagefehler-ähnlichen Scheinwahrnehmung könnte also die Flexibilität in den Phasen der Wahrnehmungsentscheidung aufdecken, wenn die Probanden mit hochdynamischen und mehrdeutigen visuellen Reizen umgehen müssen. Letztlich stützen diese Resultate jene Hypothese, dass Vorhersagefehler im Rahmen der Predictive-Coding-Theorin nicht nur bei höheren kognitiven Funktionen auftreten, also Prozessen, die mit bewussten Erwartungen verknüpft sind, sondern dass solche Vorhersagefehler auch bei schnellen, in Bruchteilen von Sekunden verlaufenden Dynamiken der optischen Wahrnehmung eine Rolle spielen.
Die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, trotz ständiger Augenbewegungen eine stabile visuelle Wahrnehmung aufrechtzuerhalten, ist essenziell für Orientierung und kognitive Verarbeitung im Alltag. Dieses Phänomen, das als visuelle Stabilität bezeichnet wird, verhindert, dass wir bei jeder schnellen Blickbewegung Desorientierung oder Schwindel empfinden. Zwei aktuelle Studien liefern neue Erkenntnisse zu den neuronalen Prozessen hinter dieser stabilisierenden Leistung – und zeigen auf, wie diese Mechanismen bei Menschen mit autistischen Merkmalen verändert sein können .
Im Zentrum der Studien stand die Beobachtung, dass das Gehirn sich an die durch eigene Augenbewegungen verursachten Reize gewöhnt und diese zunehmend als irrelevant einstuft. Ähnlich wie das Ticken einer Uhr nach einer gewissen Zeit nicht mehr bewusst wahrgenommen wird, filtert das Gehirn auch visuelle Reize, die durch schnelle Augenbewegungen, sogenannte Sakkaden, entstehen. Dieser Mechanismus erzeugt also eine Form der sensorischen Gewöhnung: Sobald ein Bewegungsmuster vorhersehbar ist, erkennt es das Gehirn als bedeutungslos und blendet es aus. Wenn Menschen ihren Blick im Spiegel von einem zum anderen Auge bewegen, scheint sich die Pupille nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft zu bewegen. Das liegt daran, dass das Gehirn die Unschärfe, die durch die Bewegung entsteht, unbewusst herausfiltert. Die Probanden der Studie führten Hunderte solcher Augenbewegungen aus, wodurch ihr sensomotorisches System lernte, die Bewegungssignale mit dem entsprechenden motorischen Kommando zu verknüpfen – ein Prozess, der zu einem selektiven Herausfiltern der selbstverursachten Bewegungseindrücke führt.
Doch dieser Mechanismus funktioniert nicht bei allen Menschen gleich gut, denn eine zweite Studie untersuchte 49 Personen mit unterschiedlich ausgeprägten autistischen Merkmalen. Die Ergebnisse zeigen, dass Menschen mit stärker ausgeprägten autistischen Zügen die visuellen Effekte ihrer eigenen Augenbewegungen weniger gut erkennen und generell eine geringere Sensitivität für Bewegung während dieser Sakkaden aufweisen. Es scheint also dass ihr Gehirn die motorischen Kommandos für Augenbewegungen nicht präzise mit dem übereinstimmt, was tatsächlich visuell wahrgenommen wird. Infolgedessen wird nicht nur die durch Eigenbewegung verursachte Unschärfe ausgeblendet, sondern ein weitaus breiteres Spektrum an Bewegungsreizen unterdrückt. Diese übermäßige sensorische Filterung könnte erklären, warum viele autistische Menschen unter einer sogenannten sensorischen Überlastung leiden. Indem das Gehirn potenziell relevante visuelle Hinweise nicht verarbeitet, entstehen im Alltag zusätzliche Herausforderungen, die mit erhöhtem Stress und Ermüdung einhergehen können. Wer etwa im Straßenverkehr beim Blick in den Seitenspiegel keine stabile visuelle Vorstellung hat, läuft Gefahr, wichtige Informationen zu übersehen. Wenn der zugrundeliegende Filterprozess im Gehirn besser verstanden wird, eröffnen sich möglicherweise neue Wege zur Linderung sensorischer Überforderungen bei autistischen Personen.
Die Fähigkeit zur visuellen Stabilität beruht also auf einer präzisen Abstimmung zwischen sensorischen Eindrücken und motorischen Kommandos, denn wird diese Abstimmung gestört hat dies tiefgreifende Auswirkungen auf die visuelle Wahrnehmung und den Umgang mit alltäglichen Reizen.
Literatur
Morris A. P. & Krekelberg B. (2019). A stable visual world in primate primary visual cortex. Current Biology, 29, 1471–1480.
Morris, A. P., Kubischik, M., Hoffmann, K.-P., Krekelberg, B. & Bremmer, F. (2012). Dynamics of eye-position signals in the dorsal visual system. Current Biology, 22, 173–179.
Murdison, T. Scott, Blohm, Gunnar & Bremmer, Frank (2019). Saccade-induced changes in ocular torsion reveal predictive orientation perception. Journal of Vision, 19, doi:10.1167/19.11.10.
Staadt, Robert, Philipp, Sebastian T., Cremers, Joschka L., Kornmeier, Jürgen & Jancke, Dirk (2020). Perception of the difference between past and present stimulus: A rare orientation illusion may indicate incidental access to prediction error-like signals. Public Library of Science, 15, doi:10.1371/journal.pone.0232349.
Pomè, A., & Zimmermann, E. (2025). Disrupted sensorimotor predictions in high autistic characteristics. Proceedings of the National Academy of Sciences, 122, doi:10.1073/pnas.2501624122
Pomè, A., Schlichting, N., Fritz, C., & Zimmermann, E. (2024). Prediction of sensorimotor contingencies generates saccadic omission. Current Biology, 34, 3215–3225.
Stangl, W. (2020). Stichwort: ‚Saccaden‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/9497/saccaden-sakkaden/ (2019-08-11)