Kollektive Phänomene werden in einer Reihe von Kontexten untersucht, von der Kontrolle von Heuschreckenplagen angefangen bis zur effizienten Evakuierung von Stadien, sogar das Verhalten von Robotern in der Gruppe wird untersucht, aber die zentrale Frage bleibt: Wie kann eine große Anzahl unabhängiger Individuen ein scheinbar perfekt koordiniertes Ganzes bilden? Bisher wurde bei der Simulation solcher kollektiver Bewegungen das Verhalten von Individuen in der Regel vorab postuliert und in Algorithmen übersetzt, um die daraus resultierende kollektive Bewegung zu untersuchen, d. h., man hat die Individuen auf eigenschaftslose Wesen reduziert, bestimmte Interaktionen zwischen ihnen vorweg angenommen und die daraus resultierende kollektive Dynamik untersucht. Dieser Ansatz hat zwar einige nützliche Erkenntnisse geliefert, kann aber nicht garantieren, dass das angenommene Verhalten auf individueller Ebene zutreffend ist, und befasst sich zudem nicht mit dessen Ursprung, also der Frage, warum die Individuen auf die eine oder andere Weise reagieren würden.
Ried, Müller & Briegel (2019) haben einen neuen Ansatz zur Untersuchung des kollektiven Verhaltens entwickelt, der auf dem Konzept der lernenden Agenten basiert, d. h., die Individuen, die mit explizit modellierten sensorischen Fähigkeiten ausgestattet sind, besitzen einen internen Mechanismus, um zu entscheiden, wie sie auf den sensorischen Input reagieren, und Regeln, um diese Reaktionen auf der Grundlage früherer Erfahrungen zu modifizieren. Man versuchte also das Schwarmverhalten ohne Vorannahme zu modellieren, um so einen natürlicheren und realistischeren Blick auf das Individuum zu erhalten. Eine solche detaillierte Modellierung der Individuen begünstigt eine natürlichere Wahl der Parameter als in den typischen Schwarmmodellen, was das Risiko von falschen Abhängigkeiten oder Überanpassung minimiert. Vor allem müssen die lernenden Agenten nicht mit bestimmten Reaktionen programmiert werden, sondern können diese autonom entwickeln, was Modelle mit weniger impliziten Annahmen ermöglicht. Die Agenten sammeln in diesem Modell Feedbacks und lernen dabei, was sie tun müssen, um möglichst gute Chancen auf eine Belohnung zu erhalten, wobei das dabei zum Einsatz kommende Lernmodell der projektiven Simulation vor einigen Jahren selbst entwickelt und bereits in anderen Bereichen erprobt wurde, etwa beim Entwurf kreativer Maschinen.
Ried et al. (2019) illustrieren diese Aspekte am Beispiel von marschierenden Heuschrecken und zeigen, wie Lernagenten das Phänomen der dichteabhängigen Ausrichtung erklären können. Ein einziger Schwarm von Wanderheuschrecken kann aus mehr als einer Milliarde Tiere bestehen und diese Tiere überwinden dabei gemeinsam große Distanzen, um immer wieder neues Futter zu finden. Im Experiment hat man nun diese kollektive Bewegung simuliert, um etwas über das Verhalten der einzelnen Heuschrecke lernen. Dabei konnte man die Ergebnisse von experimentellen Studien mit Heuschrecken reproduzieren. Dabei muss man etwa klären, wie sich eine Heuschrecke verhält, wenn sie von einer anderen Heuschrecke an der Seite berührt wird oder sich andere um sie herum auf eine bestimmte Weise bewegen. Mit solchen Erkenntnissen kann das theoretische Modell weiter verfeinert werden, wobei aber unklar ist, in welchem Maß Heuschrecken ihr Verhalten im Schwarm erlernen oder anpassen können. Andere Schwarmtiere wie Honigbienen zeigen bekanntlich eine ausgeprägte Lernfähigkeit, denn Bienen lassen sich soweit trainieren, dass sie zu unterschiedlichen Tageszeiten bevorzugt auf Blumen unterschiedlicher Farben landen. Auch eine solche Verhaltensanpassung kann mit Hilfe von lernenden Agenten modelliert werden, was Aufschluss darüber gibt, wie Bienen die Informationen verarbeiten. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass solche Lernagenten-basierte Modelle ein wirksames Werkzeug für die Untersuchung einer breiteren Klasse von Problemen sind, die kollektives Verhalten und tierisches Handeln im Allgemeinen betreffen. Modelle von lernenden Agenten können dabei das Verständnis für die Ursprünge von kollektiven Bewegungen weitreichend verbessern, wobei nun versucht wird, das neue Modell mit Erkenntnissen aus der Biologie und Ökologie zu kombinieren, um das Phänomen der kollektiven Bewegung in komplexeren Umgebungen weiter zu untersuchen.
Literatur
Ried, Katja, Müller, Thomas & Briegel, Hans J. (2019). Modelling collective motion based on the principle of agency: General framework and the case of marching locusts. Public Library of Science, 14, doi:10.1371/journal.pone.0212044.
https://www.uibk.ac.at/newsroom/mit-kuenstlicher-intelligenz-im-schwarm-unterwegs.html.de (19-02-27)