Ein zentrales Prinzip der Bindungstheorie ist, dass individuelle Unterschiede in den Bindungsrepräsentationen das Verhalten in sozialen Interaktionen organisieren, wobei sichere Bindungsrepräsentationen auch die Verhaltenssynchronisation erleichtern, eine Schlüsselkomponente adaptiver Eltern-Kind-Interaktionen. Wenn Eltern und ihre Kinder also zusammen spielen oder andere Dinge gemeinsam tun, spiegelt sich dies auch in ihren Gehirnen wider, indem sich die neuronalen Prozesse der Beteiligten synchronisieren und sich dadurch aneinander angleichen. Immer mehr Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass interpersonale neuronale Synchronie ein potenzielles neurobiologisches Korrelat für eine hohe Interaktions- und Beziehungsqualität sein könnte.
In einer Studie untersuchten Nguyen et al. (2024), ob interpersonale neuronale und verhaltensbezogene Synchronie während der Eltern-Kind-Interaktion mit den Bindungsrepräsentationen von Eltern und Kind zusammenhängt. Dazu führten 140 Eltern (74 Mütter und 66 Väter) und ihre Kinder (im Alter von 5-6 Jahren; 60 Mädchen und 80 Jungen) kooperative und individuelle Problemlösungsaufgaben durch, während die frontalen und temporalen Regionen mit funktioneller Nahinfrarotspektroskopie (bei der auf einer Kappe angebrachte Sensoren aufzeichnen, wie stark die jeweiligen Gehirnregionen mit Sauerstoff versorgt werden) gemessen wurden. Die Hirnscans bestätigten, dass die Zusammenarbeit tatsächlich zu einer höheren neuronalen Synchronisation führt als das alleinige Lösen einer Aufgabe: Eltern und Kinder waren beim gemeinsamen Puzzeln neuronal stärker auf einer Wellenlänge, wobei die Hirnareale, die helfen, sich in den anderen hineinzuversetzen, und jene, die für die Aufmerksamkeitssteuerung und Selbstregulation zuständig sind, synchronisiert waren.
Beim Vergleich der Hirndaten zeigte sich zudem, dass die Hirnströme der Eltern-Kind-Paare nicht immer gleich synchron waren, denn das Ausmaß der neuronalen Synchronie variierte je nach Eltern-Kind-Beziehung, wobei überraschenderweise die Gehirne von Vätern und Müttern mit unsicherer Bindungserfahrung stärker mit ihren Kindern synchron waren. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine hohe neuronale Synchronie nicht immer positiv bewertet werden sollte, da eine mittlere Synchronie möglicherweise ein besseres Zeichen für eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung ist. Frühere Studien deuten darauf hin, dass unsicher gebundene Eltern eher Schwierigkeiten haben, sich auf die Interaktion mit ihren Kindern einzulassen, und dass solche Eltern-Kind-Paare daher weniger gut synchronisiert sind. Diese Befunde deuten darauf hin, dass bei Eltern-Kind-Paaren mit unsicher gebundenen Müttern eine stark ausgeprägte neuronale Synchronisation für eine gelingende Interaktion besonders notwendig ist, d.h. diese Paare müssen sich mental mehr anstrengen, um gut miteinander zu harmonieren. Neuronale Synchronisation kann also ein nützlicher, aber anstrengender Bindungsmechanismus sein.
Literatur
Nguyen, Trinh, Kungl, Melanie T., Hoehl, Stefanie, White, Lars O. & Vrtička, Pascal ( 2024). Visualizing the invisible tie: Linking parent–child neural synchrony to parents’ and children’s attachment representations. Developmental Science, doi:10.1111/desc.13504.