In der politischen Kommunikation lässt sich seit Jahrzehnten ein tiefgreifender Wandel beobachten: Fakten weichen zunehmend gefühlten Wahrheiten. Besonders drastisch zeigt sich diese Entwicklung in den USA, doch auch europäische Demokratien wie Deutschland bleiben nicht verschont. Der Verlust an faktischer Orientierung in der Politik, verbunden mit dem strategischen Einsatz emotionaler Narrative, stellt eine ernstzunehmende Herausforderung für demokratische Institutionen dar. Eine aktuelle Studie von Aroyehun et al. (2025) analysierte computergestützt rund acht Millionen Reden aus dem US-Kongress zwischen 1879 und 2022 und zeigte, dass der Anteil evidenzbasierter Sprache seit Mitte der 1970er-Jahre kontinuierlich gesunken ist– mit einem historischen Tiefpunkt in der Gegenwart. Gleichzeitig nahm die Nutzung intuitiver und erfahrungsbasierter Begriffe zu, und zwar parteiübergreifend, wenn auch bei den Republikanern seit 2021 besonders stark. Diese Verschiebung hin zu subjektivem Sprachgebrauch fällt mit wachsenden sozialen Ungleichheiten, zunehmender parteipolitischer Polarisierung und einem Rückgang der legislativen Produktivität zusammen. Der Befund legt nahe, dass faktenorientierte Debatten für das Funktionieren parlamentarischer Demokratie essenziell sind. Deren Erosion stellt nicht nur die Qualität politischer Entscheidungen infrage, sondern gefährdet auch das Vertrauen in Institutionen.
Wie Sozialpsychologinnen und -psychologen erklären, basiert das menschliche Wahrheitsverständnis nicht nur auf objektiv überprüfbaren Fakten, sondern ebenso auf anekdotischer Evidenz, also Erfahrungswissen aus dem Alltag. Persönliche Erfahrungen sind emotional aufgeladen und unmittelbar nachvollziehbar – im Gegensatz zu wissenschaftlichen Studien, die oft komplex und abstrakt erscheinen. Geschichten über Einzelschicksale, die in sozialen Netzwerken kursieren, prägen die Wahrnehmung der Realität stärker als nüchterne Datensätze. Diese Form der emotionalisierten Informationsverarbeitung ist tief im menschlichen Kognitionsapparat verankert. Wie Roland Imhoff betont, interpretiert das Gehirn Inhalte, die sich leicht vorstellen lassen, als eher glaubwürdig. Emotionale Kommunikation besitzt dadurch eine erhebliche suggestive Kraft und verschafft politischen Botschaften Reichweite und Aufmerksamkeit, besonders dann, wenn sie Wut, Angst oder Empörung auslösen. Dieses Prinzip machen sich Kommunikationsprofis gezielt zunutze, um faktenbasierte Auseinandersetzungen zu unterlaufen. Lamberty spricht in diesem Zusammenhang von „Hyperemotionalisierung“, bei der die Erregung über einen Sachverhalt der sachlichen Prüfung desselben im Wege steht (zit. in Zeit Online, 2025). Der Wahrheitsanspruch wird dadurch relativiert, wenn nicht sogar gänzlich verdrängt.
Auch wenn dieses Phänomen nicht auf die USA beschränkt ist, ist die Situation dort besonders alarmierend. Ein illustratives Beispiel liefert Donald Trumps Auftritt gegenüber dem südafrikanischen Präsidenten Ramaphosa, bei dem er angeblich beweiskräftige Materialien zu einem Genozid an weißen Farmern präsentierte – die sich im Nachhinein als falsch oder irreführend herausstellten. Die Videobilder zeigten in Wahrheit ein Mahnmal für ein ermordetes Ehepaar, und die Zeitungsartikel handelten von Gewalt gegen schwarze Frauen im Kongo. Es ging ihm offenbar weniger um eine faktenbasierte Aufklärung, sondern vielmehr um die Erzeugung eines dramatischen Narrativs, das politisch instrumentalisierbar war (Zeit Online, 2025).
Ein solches Vorgehen steht symptomatisch für eine Politik, die sich von der Idee evidenzbasierter Rationalität entfernt hat. Stattdessen dominiert ein emotional aufgeladener Diskurs, in dem Fakten entweder ignoriert oder nur selektiv berücksichtigt werden – vor allem dann, wenn sie ins eigene Weltbild passen (Unkelbach, zit. in Zeit Online, 2025). Dieses psychologische Phänomen der Bestätigungsneigung (confirmation bias) betrifft sowohl wissenschaftliche als auch anekdotische Evidenz: Was nicht passt, wird ausgeblendet; was passt, wird geglaubt.
In Deutschland ist die Entwicklung weniger weit fortgeschritten, doch erste Anzeichen sind auch hier sichtbar – etwa mit dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien, die bevorzugt emotionale Narrative einsetzen (Lalot, zit. in Zeit Online, 2025). Während eine Mehrheit der Bevölkerung dem Wissenschaftssystem noch Vertrauen entgegenbringt, ist dieses Vertrauen in autoritäreren Milieus bereits deutlich geringer. In polarisierten gesellschaftlichen Debatten – etwa zur Gesundheitspolitik, Migration oder dem Klimawandel – zeigt sich, wie fragil dieses Vertrauen sein kann.
Besonders prekär ist, dass die Grenzen zwischen individuellen Empfindungen und objektiven Tatsachen zunehmend verschwimmen. Emotionale Einzelfälle wirken oft so überzeugend, dass die Frage nach deren faktischer Grundlage als unangebracht oder gar unmoralisch empfunden wird. Diese Entwicklung erschwert den demokratischen Diskurs erheblich, denn die Basis für eine rationale Auseinandersetzung – gemeinsame, überprüfbare Fakten – gerät ins Wanken.
Die Ergebnisse der Studie von Aroyehun et al. (2025) mahnen daher zur Reflexion: Eine gesunde Demokratie benötigt nicht nur emotionale Beteiligung, sondern auch eine klare Orientierung an überprüfbaren Wahrheiten. Wo politische Kommunikation zur Bühne gefühlter Wahrheiten wird, verliert die öffentliche Debatte an Substanz – und die Demokratie an Stabilität.
Literatur
Aroyehun, S. T., Simchon, A., Carrella, F., Lasser, J., Lewandowsky, S., & Garcia, D. (2025). Computational analysis of US congressional speeches reveals a shift from evidence to intuition. Nature Human Behaviour, doi:10.1038/s41562-025-02136-2
Zeit Online. (2025). Politik im Bann gefühlter Wahrheiten. Zugriff am 27. Mai 2025.
WWW: https://www.zeit.de