Das Perfide an der Ahnung ist, dass sie in die Nähe des Wissens drängelt, aber keines ist.
Peter Grubmüller
Das menschliche Gehirn ist zwar hoch anpassungsfähig, d. h., Menschen können sehr viel lernen, doch die die genetische Grundkonstitution des Gehirns verändert sich nur in Zeiträumen von Zehntausenden von Jahren. Ein aktuelles damit verbundenes Problem ist, dass Menschen zu viel Wissen auslagern und nicht mehr selbst versuchen, Wissen abzuspeichern, was aber notwendig wäre, um über komplexe Probleme nachdenken zu können und selber auf neue Lösungen zu kommen. Digital Natives denken bei einfachen Fragen gar nicht mehr darüber nach, ob sie die Antwort selbst wüssten, sondern versuchen sofort eine Internetsuche. Doch vernünftige Suchanfragen sind letztlich nur möglich, wenn man schon viel weiß, denn sonst erhält man tausende Antwort-Treffer in 0,4 Sekunden, die man auf Grund fehlenden Grundwissens nicht bewerten kann, sondern von einer Suchmaschine nach irgendwelchen Kriterien geordnet wurde. Die meisten NutzerInnen lesen auch nur die ersten drei Treffer und glauben dann, die richtige Antwort zu haben, doch um eine Antwort als gut oder schlecht einschätzen zu können, muss man schon ein umfangreiches Vorwissen besitzen. Durch die neuen Medien mit der Verfügbarkeit von Informationen – und das in riesigen Mengen – beginnt das menschliche Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohnheiten flacher und ungeduldiger zu denken, wodurch Menschen einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Untersuchungen zeigen auch, dass etwa Links in Hypertexten sogar dann ablenken, wenn sie nicht aufgemacht werden, nur weil sie vorhanden sind, denn Links können den Impuls im Kopf auslösen, auf die neue Netzseite zu springen. Diesen Wunsch muss das Gehirn unterdrücken und dieses Unterdrücken belastet das Arbeitsgedächtnis.
Informationen zu besitzen und Denken zu können ist ein Unterschied, denn um ein Thema wirklich zu durchdringen, muss man selber im Kopf Informationen und Muster abgespeichert haben und damit arbeiten. Das Gehirn ist kein Datenspeicher, sondern wenn Menschen auf einem Gebiet viel lernen, d. h., Experte oder eine Expertin werden, verändert sich deren Gehirn, und die Wahrnehmung auf das Thema funktioniert anders, ebenso Denken und Handeln. Im Gehirn verändert sich durch dieses Auslagern der Informationen das Arbeitsgedächtnis, sodass auch das Konzentrationsvermögen, also die Zeit, wie lange man sich konzentrieren kann, ohne abgelenkt zu werden, immer kürzer wird. Nach Untersuchungen können NutzerInnen am Computer nur mehr etwa vierzig Sekunden einer Sache nachgehen, bevor sie sich ablenken lassen, was kaum zu einer sinnvollen Arbeitsproduktivität führt. Wenn das Gehirn sich fühlt von der Informationsmenge überfordert, die es verarbeiten soll, dann setzt man sich nicht hin und versucht, differenzierter zu denken, sondern schaltet das Gehirn in einen Modus, undifferenziert zu denken und die Informationen eher abzuwehren. Da beginnt das Gehirn die große Datenmenge reduzieren, indem es nur noch schwarz-weiß gibt, d. h., zu hohe Komplexität führt zum Vereinfachen.
Nach einem Interview mit Martin Korte, Professor in der Abteilung Zelluläre Neurobiologie an der TU Braunschweig, in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 13. Juli 2019.