Die medizinische Anthropologin und Verhaltensbiologin Kathleen Wermke leitet das Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Universitätsklinikum Würzburg und widmet sich der Erforschung von Babylauten bzw. Babysingen, denn Melodie, Rhythmus, Lautstärke und Klangfarbe machen Babylaute aus. Babylauten, also dem ganzen Spektrum von Gurgeln, Prusten und Brabbeln, fehlt das, was die gesprochene Sprache auszeichnet, nämlich die symbolische, abstrakte Bedeutung. Neugeborene können frühestens im Alter von acht bis zehn Monaten, in der Regel erst mit einem Jahr, erste Wörter oder deren Vorstufen formulieren. Scheinbar mühelos lernen Babys Sprache, oft sogar mehrere Sprachen gleichzeitig. Wann der Weg zur Sprache beginnt, hängt davon ab, wie man Sprache definiert, denn eine affektive Sprache, die durch musikalische Elemente geprägt ist und Emotionen ausdrückt, besitzen Babys von Anfang an. Ihr Schreien ist sehr melodisch und bereits in den ersten Lebenstagen von melodischen Akzenten der Umgebungssprache geprägt. Regionale Unterschiede zeigen sich bereits in den ersten Babylauten, denn es wurde festgestellt, dass französische, schwedische, japanische und chinesische Babys mit Akzent weinen, d.h. sie bauen melodische Besonderheiten ihrer jeweiligen Muttersprache in ihr Weinen ein.
Hören und Nachahmen sind grundlegend für die Sprachentwicklung von Babys, denn sie experimentieren mit einer Vielzahl von Lauten und werden dabei von ihrer Muttersprache beeinflusst, denn schon im letzten Drittel der Schwangerschaft lauschen Babys intensiv der Melodie und dem Rhythmus der Sprache der Mutter (Prosodie). Worte versteht das Neugeborene noch nicht und vieles wird durch die Flüssigkeit in der Gebärmutter und das Bauchgewebe gedämpft, aber Melodie und Rhythmus dringen durch. Schon die ersten Schreie von Neugeborenen tragen Spuren der Muttersprache, besonders deutlich in tonalen Sprachen, also Sprachen, in denen unterschiedliche Tonhöhen die Bedeutung der Wörter bestimmen. Nach der Geburt imitieren Babys viele verschiedene Laute, aber sie sind vor allem durch die Prosodie geprägt, denn Neugeborene von Müttern, die tonale Sprachen wie Mandarin sprechen, neigen dazu, komplexere Weinmelodien zu produzieren. Das Prinzip des Sprechens durch Melodie, Bogen, Kombination und Einführung rhythmischer Pausen ist bei allen Babys gleich, wobei das Baby mit einfachen auf- und absteigenden Melodiebögen beginnt, die dann aneinandergereiht werden. Durch die Vielzahl der Kombinationsmöglichkeiten ergibt sich ein riesiges Repertoire an melodischen Ausdrucksmöglichkeiten, mit denen Babys ihre Gefühle bereits auf sehr unterschiedliche Weise ausdrücken können, und das tun alle Babys auf der Welt auf die gleiche Weise. Durch die Nachahmung von Melodiemustern drücken Babys nicht nur ihre Bedürfnisse, Wünsche und Emotionen aus, sondern bauen auch eine Bindung zur Mutter und zur Gemeinschaft auf.
Zusammengefasst nach https://topos.orf.at/babylaute-sprache-buch100 (24-03-31)