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Das Gedächtnis der Bäume

    In einem Bewässerungsversuch im Kanton Wallis in der Schweiz bewässerte man mehrere Parzellen, um die Abhängigkeit des Föhrenwachstums von der Wassermenge aufzuzeigen. Die erst trockengestressten und dann bewässerten Bäume entwickelten sich über mehr als ein Jahrzehnt sehr gut. Sie entwickelten eine dichtere Krone und dickere Stämme als ihre nicht-bewässerten Nachbarn. Auf einzelnen Flächenteilen wurde Ende 2013 das Wasser wieder abgestellt. Es stellte sich die Frage, ob die Bäume von den fetten Jahren profitieren konnten oder ob sie nach der langen Bewässerungsphase schlechter an die wieder trockeneren Verhältnisse angepasst waren. Die Antwort ist dabei vielschichtig, da verschiedene Organe des Baumes unterschiedlich reagierten. Zu den erwarteten Reaktionen auf das Abschalten der Bewässerung gehört etwa, dass die neu gebildeten Nadeln kürzer wachsen als jene in den Jahren mit Bewässerung. Überraschend hingegen war, dass die Länge neuer Asttriebe nicht im ersten, sondern erst im zweiten Jahr ohne Bewässerung abnahm. Ein erster Hinweis auf einen Legacy-Effekt, wobei man unter diesem Begriff verzögerte Wachstumsreaktionen zusammenfasst, die nicht durch die aktuell herrschenden Bedingungen, sondern nur durch solche aus der Vergangenheit zu erklären sind. Es gibt also Reaktionen, die sich noch nicht in der nächsten Vegetationsperiode auswirken, sondern erst in der übernächsten oder gar noch später. Am erstaunlichsten war jedoch die Entwicklung des radialen Stammwachstums. Die Jahreszuwächse in Holz und Rinde der nicht mehr bewässerten Bäume wurden nicht wie erwartet sofort kleiner, sondern blieben über vier Jahre deutlich breiter als vor dem Start der Bewässerung. Das Stammwachstum reagierte also nicht ausschliesslich auf die äußeren Bedingungen in Luft und Boden, sondern es profitierte von den Ressourcen und den Strukturen aus der längst beendeten Bewässerungsphase. Dabei konnte ausgeschlossen werden, dass aus der Bewässerungszeit im Boden verbliebenes Wasser eine Rolle spielte. Mit einem Rechenmodell versuchte man das unerwartete Stammwachstum zu erklären, wobei man die Legacy-Effekte mit der Lebenserwartung verschiedener Baumorgane und dem Kohlenstoffspeicher in Verbindung setzte: Ein wasserleitendes Element im Holz der Föhre bleibt etwa 50 Jahre aktiv, der Kohlenstoffspeicher wird etwa alle 10 Jahre umgesetzt und die Föhrennadeln leben etwa vier Jahre. Verkürzt kann man also sagen, dass Baumstrukturen, die bis vor 50 Jahren gebildet wurden, noch heute das Wachstum beeinflussen, weil sie Eigenschaften vergangener Jahre in die Gegenwart tragen. Die Lebensdauer der Nadeln, und damit die Umweltbedingungen der letzten vier Jahre zeigten den größten Einfluss auf das Stammwachstum, d. h., so lange brauchten die ehemals bewässerten Föhren auch, bis sie ihre vergrösserte Krone wieder auf das Niveau von vor der Bewässerung reduziert hatten. Diese Forschungsarbeit zeigt, dass sich die Intensität des Baumwachstums unter feuchteren Verhältnissen positiv auf mehrere darauffolgende Trockenjahre auswirken kann. Es gilt aber auch der Umkehrschluss, dass ein extremes Trockenjahr sich negativ auf mehrere darauffolgende Jahre auswirkt. Das Wachstum und viele andere physiologische Prozesse hängen folglich nicht nur von den aktuellen Wetterbedingungen ab, sondern werden von den physiologischen Prozessen der Jahre zuvor mit beeinflusst (Zweifel et al., 2020).

    Literatur

    Zweifel, R., S. Etzold, F. Sterck, A. Gessler, T. Anfodillo, M. Mencuccini, G. von Arx, M. Lazzarin, M. Haeni, L. Feichtinger, K. Meusburger, S. Knuesel, L. Walthert, Y. Salmon, A. K. Bose, L. Schoenbeck, C. Hug, N. De Girardi, A. Giuggiola, M. Schaub, and A. Rigling (2020). Determinants of legacy effects in pine trees – implications from an irrigation-stop experiment. New Phytologist, doi:10.1111/nph.16582.






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