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Der Mythos des moralisch guten Selbst

    Die Überzeugung, ein guter Mensch zu sein, scheint ein grundlegender Bestandteil des menschlichen Selbstverständnisses zu sein. Es ist dabei unerheblich, ob eine Person mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist oder ein weitgehend unauffälliges Leben führt – die meisten Menschen halten sich selbst für moralisch überdurchschnittlich. Es konnte festgestellt werden, dass diese Selbstwahrnehmung jedoch häufig verzerrt ist, insbesondere in Bezug auf moralische Fragen. Psychologische Forschung zeigt, dass der Blick auf das eigene moralische Ich oftmals nicht der Realität entspricht, sondern einer idealisierten Version des Selbstbildes folgt. Diese ist tief in das Bedürfnis eingebettet, sich selbst als „gut“ wahrzunehmen.

    Selbst Straftäter, darunter Gewaltverbrecher, Sexualstraftäter und Einbrecher, nehmen sich selbst nicht als unmoralisch oder böse wahr. Vielmehr beschreiben sie sich in Studien als netter, ehrlicher, kontrollierter und moralischer als der Durchschnitt der Bevölkerung. Diese Beobachtung mag auf den ersten Blick überraschen, doch tatsächlich zeigt sich hier ein psychologisch weit verbreitetes Phänomen: Menschen neigen dazu, ihre moralischen Eigenschaften übermäßig positiv einzuschätzen – weit mehr als etwa ihre Intelligenz, ihr Aussehen oder ihre sozialen Fähigkeiten (Thielmann & Burghart, 2025).

    Gemäß den Forschenden Isabel Thielmann und Matthias Burghart ist die zentrale Bedeutung des moralischen Charakters für das Selbstbild maßgeblich dafür verantwortlich. Die Selbsteinschätzung als schlechter Mensch wird von den meisten Menschen abgelehnt. Diese Motivation zur positiven moralischen Selbstsicht führt zu sogenannten „blinden Flecken“ – verzerrten Einschätzungen über die eigene Fairness, Ehrlichkeit oder Bescheidenheit, Eigenschaften, die besonders sozial erwünscht und zugleich für Außenstehende gut beobachtbar sind. Paradoxerweise sind es gerade diese moralischen Merkmale, in denen Menschen sich selbst am stärksten überschätzen.

    Die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung manifestiert sich insbesondere in Untersuchungen, in denen sowohl die betroffene Person als auch Bekannte oder Beobachter denselben Fragebogen zu moralischem Verhalten ausfüllen. Es zeigt sich, dass andere Akteure häufig ein differenzierteres Bild zeichnen, während sich viele Akteure selbst durchweg positiv bewerten. Solche Selbsttäuschungen sind nicht unbedingt bewusst oder böswillig, sondern vielmehr instinktiv. Menschen greifen instinktiv zu Rechtfertigungen für eigene Verfehlungen, indem sie beispielsweise den Kontext verantwortlich machen oder sich mit noch schlimmerem Verhalten anderer vergleichen.

    Das Bedürfnis nach moralischer Integrität erfüllt dabei zwei Funktionen: Die vorliegende Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass das Phänomen eine doppelte Funktion erfüllt. Einerseits trägt es zur Stabilisierung des Selbstbildes bei, andererseits wirkt es sich positiv auf das soziale Ansehen aus. Personen, die sich selbst als moralisch wahrnehmen, fällt es leichter, auch andere von ihrer Moral zu überzeugen. Das Selbstbild konstituiert sich folglich zum strategischen Werkzeug: Die Stärke der eigenen Überzeugung von der eigenen Person determiniert die Überzeugungskraft, die nach außen hin zum Ausdruck kommt. Diese Selbsttäuschung kann sich dahingehend auswirken, dass sie Veränderungen verhindert. Personen, die sich bereits als integer betrachten, sehen keine Notwendigkeit, an ihrer moralischen Entwicklung zu arbeiten. Gemäß Thielmann und Burghart (2025) wird die Moralische Weiterentwicklung innerhalb der Hierarchie persönlicher Ziele weit nach unten verschoben, hinter Karriere, Status oder Erfolg.

    Die Tragik der Situation besteht in der Konsequenz, die sich aus einer eingeschränkten moralischen Selbsterkenntnis ergibt. Diese verhindert eine gezielte Selbstverbesserung. Aus der Perspektive psychologischer Fachkräfte stellt dies ein fundamentales Hindernis für persönliche Entwicklung und gesellschaftlichen Fortschritt dar. Es ist evident, dass die Intention zur Veränderung ohne ein realistisches Bild der eigenen moralischen Stärken und Schwächen vage bleibt oder gar als bedeutungslos erachtet werden muss. Obwohl Methoden wie das gezielte Feedback dazu beitragen können, blinde Flecken zu reduzieren, ist die langfristige Wirksamkeit und Anwendbarkeit auf moralische Eigenschaften noch unzureichend erforscht.

    Die vorliegende Evidenz aus der Forschung zeigt deutlich, dass der Mythos des „guten Ichs“ tief im menschlichen Denken verankert ist. Er fungiert als Schutzmechanismus, als Selbstvergewisserung und als soziale Strategie. Jedoch sind damit auch Risiken verbunden, die nicht nur den Einzelnen, sondern auch das gesellschaftliche Miteinander betreffen. In Situationen, in denen Selbsttäuschung über das eigene Wohlergehen vorherrscht, ist oft eine kritische Selbstreflexion nicht vorhanden. Der Weg zu mehr moralischer Authentizität führt daher über das Eingeständnis der eigenen Unvollkommenheit. Dieser Schritt verlangt Mut, Einsicht und die Bereitschaft zur Veränderung.

    Literatur

    Thielmann, I., & Burghart, M. (2025). Self-knowledge: Limits, implications, and paths to change. Current Opinion in Psychology, 65, /doi:0.1016/j.copsyc.2025.102056

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