Aus einer funktionalistischen Perspektive hat das Bildungswesen verschiedene Funktionen für eine Gesellschaft zu erfüllen. Als erste Funktion des Bildungssystems gilt die Enkulturationsfunktion, mit der das Bildungswesen durch die Vermittlung grundlegender kultureller Fertigkeiten und Wertorientierungen für eine kulturelle Reproduktion der Gesellschafft verantwortlich ist. Eng damit verbunden ist die Integrations- oder Legitimationsfunktion des Bildungswesens, das der Reproduktion von Werten, Normen und Weltanschauungen dient, die die herrschenden politischen Verhältnisse stabilisieren, indem sie die gesellschaftliche Integration ermöglichen und das Vertrauen in das politische Regelsystem stärken. Hinzu kommt die Qualifikationsfunktion des Bildungswesens, bei der es um die Vermittlung bestimmter Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen geht, die in der Wirtschaft aktuell und zukünftig nachgefragt werden. Das Bildungssystem soll einerseits für den Arbeitsmarkt qualifizieren und andererseits qualifiziertes Personal für die Wirtschaft zur Aufrechterhaltung und Verbesserung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen bereitstellen. Die Selektionsfunktion bzw. Allokationsfunktion bezieht sich direkt auf die Positionierung der Absolventen des Bildungssystems durch entsprechende Bildungsabschlüsse innerhalb der gesellschaftlichen Sozialstruktur. Dabei muss ein Erziehungssystem unter Anerkennung des Prinzips der Chancengleichheit die Menschen nach Kriterien selektieren, die ihre Zuordnung auf unterschiedlich hoch bewertete Positionen des Beschäftigungssystems und damit in der Gesellschaft ermöglicht. Legitimiert wird die Selektionsfunktion der Institutionen des Bildungswesens durch das meritokratische Prinzip, dass also diese Selektion auf Grund schulischer Leistungen und Erfolge zustande kommen. Schule und Lehrer sind dabei eine Art Türhüter beim Erwerb von gesellschaftlichen Positionen und sozialem Status, indem sie die Leistungen mit Schulnoten, Zeugnissen und Abschlüssen bewerten und zertifizieren. Sie vergeben oder verweigern dadurch Berechtigungen und eröffnen oder verschließen Wege in prestigeträchtige Positionen mit hohem Einkommen.
Eltern versuchen daher durch Nachhilfe vor allem die Chancen ihrer Kinder in diesem Prozess mit seinen verschiedenen Selektionsstufen zu verbessern, denn wern Wissenslücken durch Nachhilfeunterricht gefüllt werden, dann zielt dies vorrangig auf die Verbesserung von Noten, das Erreichen der nächsten Klassenstufe oder eines bestimmten Abschlusses, sodass die Lerninhalte weniger der Qualifikation dienen, als dass sie Mittel zum Erreichen von Bildungserfolgen sind. Begründungen für die Inanspruchnahme von Nachhilfeunterricht lassen sich auf verschiedenen Ebenen lokalisieren, wobei man zwischen schüler-, eltern-, schulsystem- und arbeitsmarktbezogenen Motiven unterscheiden muss. Allerdings bestehen zwischen diesen Ebenen enge Beziehungen, wenn man die Motive der Eltern als diejenigen, die sich in der Regel für die Aufnahme von Nachhilfeunterricht für ihr Kind entscheiden und diesen finanzieren, betrachtet. Bei dieser Entscheidung orientieren sich Eltern natürlich an den Leistungen ihres Kindes, aber auch an ihren eigenen Hoffnungen und Zielen für das Kind sowie an den strukturellen Rahmenbedingungen der Situation. Die Rahmenbedingungen werden wiederum maßgeblich durch die Gegebenheiten des Bildungssystems und dessen Funktion für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt bestimmt, der über die gesellschaftliche Position, die soziale Anerkennung, die soziale Sicherheit und somit letztlich die Lebenschancen der Menschen maßgeblich bestimmt. Inwieweit Eltern ihre Kinder auf dem Weg durch die Schule in den Arbeitsmarkt unterstützen können, hängt natürlich auch von der Verfügbarkeit entsprechender Mittel im Elternhaus ab. Wer die Nachfrage nach Nachhilfe erklären will, muss sich also analytisch vor allem mit der Frage auseinandersetzen, mit welchen Zielen und unter welchen Bedingungen Eltern ihre Kinder Nachhilfeunterricht in Anspruch nehmen lassen. Allerdings muss man auch die Anbieter von kommerzieller Nachhilfe als eigenständige Akteure auf dem Nachhilfemarkt begreifen, die ihrerseits versuchen, die Nachfrage zusätzlich zu stimulieren, um durch Wachstum Umsatz und Gewinn zu steigern.
Literatur
Birkelbach, K., Dobischat, R. & Dobischat, B. (2016). Außerschulische Nachhilfe. Ein prosperierender Bildungsmarkt im Spannungsfeld zwischen kommerziellen und öffentlichen Interessen. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung.
Stangl, W. (2018). Nachhilfe auf lerntipp.at. [benjamin & werner]s praktische lerntipps.
WWW: https://nachhilfe.lerntipp.at/ (18-07-17)