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Fakt oder Fiktion?




    Ein Kennzeichen des menschlichen Denkens ist die Fähigkeit, nicht nur über die tatsächliche Welt nachzudenken, sondern auch über alternative Möglichkeiten, wie die Welt sein könnte, wobei eine Möglichkeit, diesen Kontrast zu untersuchen, die Sprache darstellt. Die Sprache verfügt über grammatikalische Regeln, um Möglichkeiten und Notwendigkeiten auszudrücken, wie etwa die Wörter könnte oder müssen. Mit diesen sprachlichen Hilfsmitteln, die man als modale Ausdrücke (s. u.) bezeichnet, können Menschen den Unterschied zwischen tatsächlichem und möglichem Zustand auf eine sehr kontrollierte Weise ausdrücken. Während Äußerungen wie „Es gibt ein Monster unter meinem Bett“ das Hier und Jetzt eines Diskursmusters aktualisieren, verschiebt eine modale Version dieses Satzes „Es könnte ein Monster unter meinem Bett geben“, das Hier und Jetzt und postuliert lediglich eine Möglichkeit.
    Normalerweise sind Menschen leicht in der Lage, die Realität von einer bloßen Möglichkeit zu unterscheiden, doch man weiß sehr wenig über die neuronalen Mechanismen, die dies ermöglichen. Tulling et al. (2020) untersuchten nun mit Hilfe der Magnetoenzephalographie, ob sich die Prozesse der Diskursaktualisierung und der modalen Verschiebung im Gehirn unterscheiden. Dafür wurden faktische und modale Äußerungen in kurze Erzählungen eingebettet, wobei in zwei Experimenten faktische Ausdrücke die gemessene Aktivität gegenüber modalen Ausdrücken erhöhten. Dabei schien die Lokalisation des Anstiegs jedoch von der Perspektive abzuhängen, denn die Signale in den rechten temporo-parietalen Arealen nahm zu, wenn die Repräsentation der Überzeugungen einer anderen Person aktualisiert wurde, während die frontalen medialen Areale empfindlich für die Aktualisierung der eigenen Überzeugungen zu sein scheinen. Das Vorhandensein einer modalen Verschiebung erhöhte in keiner der Analysen die Signalstärke, jedoch erzeugten faktischen Sätze innerhalb von 200 Millisekunden eine signifikant höhere Aktivität als Modalkonstruktionen, d. h., das Gehirn ist offenbar besonders sensitiv für Information, die als Faktum präsentiert werden.

    Man konnte somit in diese Studie einige potentielle neuronale Signaturen jenes Prozesses identifizieren, durch den Fakten zur mentalen Repräsentation der Welt hinzugefügt werden, also wenn man sagt „Es könnte ein Monster unter meinem Bett sein“, distanziert man sich vom beobachtbaren Hier und Jetzt und stellt sich vor, wie die Welt sein könnte. Das bedeutet, dass das menschliche Gehirn auf Äußerungen über das Hier und Jetzt anders reagiert als auf Äußerungen, die Möglichkeiten vermitteln, wobei erst im Nachhinein eine Trennung von faktischer Informationen von hypothetischen Informationen stattfindet. Das Kritische an der Sache ist daher, dass das Gehirn zunächst nicht unterscheidet, ob eine faktisch präsentierte Information richtig oder falsch ist und wie glaubwürdig die Quelle der Aussage ist, sondern es bedeutet, dass eine als Faktum berichtete Falschinformation im Gehirn zunächst eine genauso starke Reaktion auslöst wie eine echte Tatsache, und erst im zweiten Schritt erfolgt die bewusste Bewertung und Verarbeitung des Gehörten oder Gelesenen.

    Kurz gefasst: Das menschliche Gehirn sortiert schon vor dem Nachdenken über den Inhalt einer Information, ob etwas ein Faktum oder eine Möglichkeit sein könnte, und es reagiert dabei vor allem auf Aussagen, die als Fakten formuliert sind, unabhängig davon, ob die Information tatsächlich stimmt oder nicht.


    Anmerkung: Modalität bezeichnet in der Sprachwissenschaft eine besondere Art von sprachlicher Bedeutung, die sich etwa mit Ausdrücken einstellt wie den Modalverben müssen, können, mit Adverbien wie möglicherweise, vielleicht, bestimmt und vielen anderen Arten von Ausdrücken. Das Besondere an solchen modalen Aussagen ist, dass nicht Einzeltatsachen der wirklichen Welt festgestellt werden, sondern andersartige oder weitergehende Aussagen gemacht werden, die auch Vergleiche verschiedener Möglichkeiten enthalten.


    Literatur

    Tulling, Maxime, Law, Ryan, Cournane, Ailís & Pylkkänen, Liina (2020). Neural Correlates of Modal Displacement and Discourse-Updating under (un)Certainty. Eneuro, doi:10.1523/ENEURO.0290-20.2020