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Frühkindliche Verlustängste haben Folgen für das ganze Leben

    Simone Blaß

    Grundsätzlich ist Angst etwas Gutes. Sie warnt uns vor Gefahren und lässt uns in bestimmten Situationen vorsichtig werden. Wissenschaftler vermuten, dass der Mensch nicht nur ab dem Zeitpunkt seiner Geburt mit Ängsten konfrontiert ist, sondern bereits weit vorher. Manche Ängste tauchen in unterschiedlicher Ausprägung bei allen Kindern auf. Dazu gehört zum Beispiel Angst vor Dunkelheit, Alleinsein oder lauten Geräuschen. Auch die Trennungs- oder Verlustangst ist normal – bis zu einem gewissen Grad.

    Fehlender Blickkontakt kann bei Babys Trennungsangst auslösen

    Ein Säugling hält sich für einen Teil seiner Mutter. Beginnt er zu begreifen, dass er unabhängig von ihr existiert, macht diese Erkenntnis erst einmal unsicher. Das Baby wird extrem anhänglich, beginnt zu weinen, wenn es die Mutter nicht mehr sieht. Schließlich weiß das Kind nicht, ob die Bezugsperson wiederkommen wird. „Kinder erleben das ‚Verschwinden‘ der Bezugsperson kognitiv als realen Verlust, das heißt, sie müssen erst lernen, dass diese Person nicht auf Dauer verloren ist“, erklärt Professor Werner Stangl vom Institut für Pädagogik und Psychologie der Johannes Kepler Universität in Linz. „Hier genügt schon der Verlust des Blickkontaktes, um Angst auszulösen. Wiederholte Trennung von der Bindungsperson belasten jedes Kind emotional, was auch physiologisch nachweisbar ist.“ Je enger das Kind an eine Person gebunden ist, desto stärker fällt auch die Angst aus.

    Je weniger Bezugspersonen, desto ausgeprägter die Angst

    Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es Kulturen gibt, in denen das bei uns so typische Fremdeln so gut wie gar nicht stattfindet. Man vermutet, dass dahinter die sehr engen Einzelbeziehungen zwischen Mutter und Kind stecken, in denen unsere Kinder oft aufwachsen. Trotzdem: Weltweit muss jedes Baby erst lernen, Vertrauen zu entwickeln. Im Lauf der Zeit gewinnt es an Sicherheit. Auch, wenn sich Zweijährige riesig aufregen können, wenn man sie einem anderen überlässt, es ist meist mehr Protest als Angst. Sie beruhigen sich in der Regel schnell, denn es ist ihnen klar, dass die Eltern wiederkommen werden. Ein Kind hat in diesem Alter bereits Erfahrung zu verbuchen. Es hat Vertrauen gefasst und erste Ängste schon überwunden. „Verlustangst setzt ja eine schon erfolgte Bindung beziehungsweise auch die Bindungsfähigkeit voraus und tritt in der Regel erst dann auf, wenn eine bestehende Bindung gefährdet erscheint, etwa durch eine andere Person. Wobei sich Verlustangst auch als Eifersucht ausdrückt.“ Nach zweieinhalb bis drei Jahren verschwindet die frühkindliche Trennungsangst normalerweise. Bis dahin sollte das Kind – möglichst in kleinen Schritten – gelernt haben, sich für eine gewisse Zeit von vertrauten Personen zu trennen. Der Psychologieprofessor weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es wichtig sei, „dass die Trennung als etwas erlebt wird, was nicht die Beziehung beeinträchtigt.“

    Ängste nie herunterspielen

    Ein Kind, das Angst hat, braucht vor allem Verständnis. Es auszulachen, anzuschreien oder gar in die angstauslösende Situation „hineinzuwerfen“ und sich zum Beispiel einfach davonzuschleichen, wenn das Kind unter Trennungsangst leidet, bringt höchstens eine massive Verstärkung der Furcht. Man muss das Kind und seine Angst ernst nehmen, kann es aber langsam an eine neue Situation gewöhnen. Das Ziel dabei ist nicht, das Kind „angstfrei“ zu machen, sondern ihm beizubringen, dass Ängste etwas völlig Normales sind. Dass jeder sich mal fürchtet, auch die Großen, und dass man Ängste überwinden kann. Sinnvoll sind hier Mutgeschichten über kleine Helden des Alltags. So unterstützt man das Kind bei der Angstverarbeitung, bietet eine gute Basis für ein Gespräch und vermittelt vor allem Sicherheit.

    Die Angst vor der Angst ist oft das Schlimmste

    Verlustangst ist eine Angst, die nicht nur im Kleinkindalter auftritt. Sie kann sich belastend durch ein ganzes Leben ziehen. „Im späteren Leben gibt es immer wieder Phasen, an denen man von Menschen Abschied nehmen muss. Wobei es eine Rolle spielt, wie man diese Prozesse in frühester Kindheit erlebt und auch bewältigt hat. Hierzu gehören auch Abschiede von sich selber, etwa beim Älterwerden der Abschied von der Kindheit und Jugend.“

    Die Wurzeln der Verlustangst liegen beinahe immer in der Kindheit und die Folgen sind gravierend: Menschen, die unter Verlustangst leiden, neigen etwa in Beziehungen oft zum Klammern, obwohl objektiv betrachtet kein Anlass dazu besteht. Dadurch lösen sie erst einen Trennungsprozess aus, der wiederum die Angst bestätigt und die Angst vor der Angst noch größer werden lässt. Ein Teufelskreis, aus dem man erst durch Aufarbeitung der frühkindlichen Erlebnisse wieder herauskommt.

    Angst versteckt sich manchmal sehr geschickt

    Nimmt die Verlustangst bereits im Kindesalter Formen an, die nicht mehr als normal gelten – ist zum Beispiel das Kind absolut untröstlich, wenn die Mutter weg ist – dann ist ein Gespräch mit einem Kinderarzt sinnvoll. Schwierig wird es, wenn Angst als solche nicht erkannt wird. „Zeigt ein Kind sich in seinem Verhalten unruhig, hat es auf nichts Lust, wirkt es abwesend, ist es unkonzentriert, gereizt oder sogar aggressiv, dann sollte man aufhorchen“, warnt Dr. Ulrich Fegeler vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte. „Körperlich verbergen sich Ängste häufig hinter Symptomen wie Appetitlosigkeit, Reizhusten, Infektanfälligkeit und besonders hinter unspezifischen Schmerzen, vor allem Bauchschmerzen.“ Aber auch Stottern oder Bettnässen können genauso ein Bild der Angst sein wie Zwangshandlungen. Bei jedem auffälligen Verhalten sollte man also immer auch daran denken, dass Ängste dahinter stecken könnten.

    Liebesentzug ist grausam

    Wenn Verlustangst massiv wird, sich zum Beispiel in späteren Jahren durch die Vermeidung von Konfliktsituationen zeigt, dann vermuten die Psychologen dahinter vor allem zwei mögliche Gründe: eine zu starke Bindung an die Mutter beziehungsweise die Eltern mit einhergehender Verwöhnung oder das Gegenteil davon – nämlich eine ständige Erfahrung von Ablehnung im Kindesalter verbunden mit feindseligen Gefühlen seitens der Mutter oder beider Elternteile. „Trennung“, so Professor Stangl, „kann nicht nur physisch erlebt werden, sondern auch rein psychisch etwa in Form von Kommunikationsverweigerung.“ Nach Ansicht von Fachärzten ist es hinsichtlich der Verlustangst gefährlich für die Entwicklung eines Kindes, eine personalisierte, zu emotionale Streitform zu verwenden und mit Mitteln wie „Du-hast-die-Mutti-nicht-mehr-lieb“ oder Liebesentzug zu arbeiten. Denn die Folgen einer solchen fehlgeleiteten Streitkultur können erheblich sein. Sie beginnen mit einer Vermeidung von Auseinandersetzungen aus Angst, denjenigen, den man kritisiert, zu verlieren und führen bis zur Depression. Der Ärzteverband weist daher darauf hin, dass Kinder lernen müssen, zu streiten, ohne dabei Verlustängste zu entwickeln. Damit sie wissen, dass ein Streit nicht gleichbedeutend ist mit dem Entzug von Liebe.

    Quelle
    t-online.de vom 13. Mai 2013






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