Zu den wichtigsten Fähigkeiten des Menschen gehört es, andere zu verstehen, wobei diese wichtige sozial-kognitive Fähigkeit als intuitive Psychologie bzw. Theory of Mind umschrieben werden. Im Alltag versucht man stets Handlungen anderer zu verstehen, indem man Rückschlüsse auf ihre Gedanken und Motive zieht. Diese alltagspsychologischen Interpretationen laufen so einfach und schnell ab, dass sie trivial erscheinen, doch ist bisher nur wenig erforscht, wie sich die Fähigkeit zur angemessenen Interpretation menschlichen Verhaltens entwickelt und welche Mechanismen diese umfasst. Es stellt sich daher die Frage, ab wann Kinder ein naives Erklärungsmodell zwischenmenschlicher Interaktionen entwickeln und unter welchen Bedingungen sie diese Fähigkeit auch früher zeigen können. Ob ein Kind bereits über eine Theory of Mind verfügt, ist vor allem daran erkennbar, dass es nicht nur richtige, sondern auch falsche Überzeugungen anderer Menschen als handlungsleitend versteht. Osterhaus & Koerber (2021) konnten nun nachweisen, dass Kinder rund um das erste Schuljahr herum verstehen, dass es zwischen Menschen zu Missverständnissen kommen kann.
Dazu wurden die Kinder zum ersten Mal im Kindergarten interviewt und dann bis ans Ende der Grundschulzeit begleitet, wobei man jährlich ihre Kompetenzentwicklung gemessen hat. Auf diese Weise ließ sich sehr genau verfolgen, wann Entwicklungsschritte auftreten und wovon diese abhängen. Die SchülerInnen bekamen Aufgaben gestellt, etwa die Geschichte über ein Mädchen, dass eine Überraschungsparty versehentlich ausplaudert, wobei knapp 90 Prozent der Neunjährigen schon erkennen, dass solche Situationen nicht auf Absicht beruhen. Diese Fähigkeit scheint auf einen relativ simplen Prozess zurückzugehen, bei dem Kinder das, was in ihrem sozialen Umfeld passiert, mehr oder minder automatisch wahrnehmen und bewerten. Und je mehr Erfahrung sie hierin haben, desto besser scheint diese Bewertung zu funktionieren. Andere Fähigkeiten scheinen sich aber nicht in erster Linie durch ein Mehr an Erfahrung zu entwickeln, denn so hängt das Verständnis davon, dass zwei Menschen dieselbe Information anders interpretieren, nicht mit dem Alter zusammen, mit dem einzelne Kinder diesen grundlegenden Meilenstein im Verständnis anderer erlangten. Nur rund 60% der Neunjährigen lösten eine entsprechende Aufgabe korrekt. Stattdessen hing diese Fähigkeit mit der Intelligenz der Kinder zusammen, denn zum Ende der Grundschule schnitten intelligentere SchülerInnen bei den entsprechenden Tests besser ab. Darüber hinaus zeigte sich, dass diese Einsicht eine wesentliche Grundlage ist für viele weitere Entwicklungen in der Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen. Zu den komplexen Fähigkeiten, die sich im Verlauf der Grundschule entwickeln, gehört Sarkasmus zu erkennen, die Gefühle anderer an den Augen abzulesen, sich in die Gedankenwelt eines anderen zu versetzen und einen Fauxpas auszumachen.
Aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie lässt sich vermuten, dass sich dieses Verständnis nicht allein mit der Erfahrung entwickelt, wie etwa das Erkennen einer sozialen Regelübertretung, sondern dass Kinder sich explizit hiermit auseinandersetzen müssen. Kinder müssen also lernen, die komplexe Funktionsweise des Denkens zu verstehen und zudem eine Theorie darüber entwickeln, nach welchen Mustern komplexe soziale Interaktionen ablaufen. Einige Aspekte entwickeln sich aller Wahrscheinlichkeit nach ohne großes Zutun in der Erziehung, etwa allein durch Erfahrung, wobei natürlich entscheidend ist, ob Kinder in einem Umfeld leben, in dem sie diese Erfahrung machen können. Für Erziehende es deshalb als Lernziel wichtig, mit Kindern entsprechende Situationen durchzusprechen, ihnen zu erklären, warum die Beteiligten Bestimmtes denken und es an die Erfahrungswelt der Kinder rückkoppeln. Auch sollte man Kindern die passenden Begriffe dafür beibringen, denn wenn ein Grundschulkind an der Augenpartie eines Menschen nicht ablesen kann, dass dieser durchsetzungsfähig ist, liegt dies wahrscheinlich daran, dass es keinen Begriff von diesem Zustand hat. Gerade bei Konflikten ist es wichtig, dass Kinder über die nötigen Tools verfügen, um sich in andere hineinzuversetzen und Konflikte so effektiv zu lösen.
Literatur
Osterhaus, C. & Koerber, S. (2021). The development of advanced theory of mind in middle childhood: A longitudinal study from age 5 to 10 years. Child Development, doi:10.1111/cdev.13627