Neuronale Netze werden erfolgreich zur Nachahmung und Modellierung kognitiver Prozesse eingesetzt, doch um Aufschluss über die neurobiologischen Mechanismen zu erhalten, die die menschliche Kognition ermöglichen, müssen diese Modelle die Struktur und Funktion echter Gehirne nachahmen. Gehirngesteuerte Netzwerke unterscheiden sich dabei von klassischen neuronalen Netzwerken durch die Umsetzung von Gehirnähnlichkeiten auf verschiedenen Ebenen, von der mikro- und mesoskopischen Ebene neuronaler Funktionen, lokaler neuronaler Verbindungen und Schaltkreisinteraktionen bis hin zur großräumigen anatomischen Struktur und Konnektivität zwischen verschiedenen Bereichen.
Pulvermüller (2023) hat nun die Modellierung der menschlichen Begriffsbildung und der Einfluss von Sprachmechanismen auf die Entstehung von Konzepten untersucht, denn Menschen können bekanntlich nahezu mühelos eine oder mehrere Sprachen lernen, wofür sie nicht nur lernen müssen, wie man Wörter ausspricht, sondern auch lernen, Wörter mit Inhalten bzw. mit Konzepten wie ‚Kaffee‘, ‚Montag‘ und ‚Schönheit‘ zu verbinden. Diese Netzwerke waren dabei nicht nur in ‚Areale‘ unterteilt, die denen des menschlichen Gehirns ähneln, sondern auch die Verbindungsstruktur zwischen diesen Arealen wurde der Großhirnrinde des Menschen nachgebildet. Die Bereiche bestehen dabei aus Gruppen künstlicher ‚Nervenzellen‘, die wiederum über lokale Verbindungen miteinander kommunizieren. Diese individuellen ‚Nervenzellen‘ können ihre Verbindungen verstärken, wenn sie gemeinsam aktiv sind, oder abschwächen, wenn sie unabhängig voneinander aktiv sind. Dieses Lernprinzip, bekannt als Hebb’sches Lernen, ist in biologischen Systemen gut erforscht, und man kann mit Hilfe dieser gehirnähnlichen Netzwerke (brain-constrained networks) neurobiologisch fundierte Theorien zur Sprache und Kognition testen und kognitive Phänomene erklären.
In simulierten Perzeptionsexperimenten konnte man etwa diese künstlichen Strukturen dazu bringen, „Objekte“ wahrzunehmen und in Lernaufgaben mit sprachlichen Informationen versorgen, wobei sich gezeigt hat, dass die Netzwerke mühelos lernen, welche Wörter für welche Gegenstände verwendet werden können. Besonders interessant und unerwartet war, dass innerhalb der gehirnähnlichen Netzwerke stark verschaltete Nervenzellpopulationen entstanden, die als biologische Grundlage von Konzepten fungieren. Diese Nervenzellpopulationen waren nicht nur für bestimmte Gegenstände aktiv, sondern auch für ganze Klassen ähnlicher Gegenstände und Entitäten. Selbst bei neuen, bisher nicht beobachteten Gegenständen aktivierten die Netzwerke den relevanten konzeptuellen Nervenzellschaltkreis. Bei gleichzeitigem Lernen sprachlicher Ausdrücke war diese Konzeptbildung sogar noch effizienter und schneller, als bei nicht-sprachlichem Lernen, was darauf hindeutet, dass Sprache auf dem biologischen Niveau die Konzeptbildung unterstützen und beschleunigen kann. Besonders ausgeprägt war der Einfluss der Sprache auf die Bildung abstrakter Begriffe wie „Schönheit“ oder „Frieden“, denn diese umfassen viele verschiedene Sinneseindrücke, die aufgrund ihrer Vielfalt vom biologischen Lernmechanismus nicht erfasst werden können, denn ein Gemälde, ein Sonnenuntergang und ein Konzert haben nicht viel gemeinsam, können aber alle „schön“ sein. Die Verschiedenartigkeit dieser Sinneseindrücke macht es dem biologischen Lernmechanismus zunächst unmöglich, bestimmte Ähnlichkeiten zu erfassen, bis dem Netzwerk eine sprachliche Grundlage für jeden Begriff beigebracht wird, denn erst dann bildet es auch abstrakte Begriffsrepräsentationen, die jedoch eng mit den sprachlichen Repräsentationen verschmolzen sind.
Zwar hat schon eine Reihe von Linguistinnen und Linguisten darauf hingewiesen, dass Denken und Sprache miteinander zusammenhängen, doch war die Idee, dass Sprache das menschliche Denken stark beeinflusst, bisher eher unpopulär oder zumindest umstritten. Die neuen Ergebnisse mit gehirnähnlichen Netzwerken zeigen nun aber einen starken Einfluss von Sprache auf die Konzeptbildung im Simulationsexperiment und legen einen neurobiologischen Mechanismus für den kausalen Einfluss der Sprache auf das Denken nahe.
Literatur
Pulvermüller, Friedemann (2023). Neurobiological mechanisms for language, symbols and concepts: Clues from brain-constrained deep neural networks. Progress in Neurobiology, 230, doi:10.1016/j.pneurobio.2023.102511.
Constant, M., Pulvermüller, F. & Tomasello, R. (2023). Brain-constrained neural modeling explains fast mapping of words to meaning. Cerebral Cortex, doi: 10.1093/cercor/bhad007.
https://www.fu-berlin.de/presse/informationen/fup/2023/fup_23_209-neurowissenschaft-sprache-pulvermueller/index.html (23-09-25)