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Stress als Motor der Evolution

    von Gianna Grün

    Im täglichen Leben ist Stress allgegenwärtig – und unerwünscht. Denn für den Menschen hat Stress meist negative Folgen – von Gereiztheit über Kopfschmerzen und Schlaflosigkeit bis zum Hörsturz. Für unsere Zellen ist er jedoch ein wichtiger Antrieb: Ohne Stress gibt es keine Evolution.

    DÜSSELDORF. Ursprünglich hatte der inzwischen stark strapazierte Begriff „Stress“ eine ganz nüchterne Bedeutung. Der österreichisch-kanadische Forscher Hans Selye habe ihn eingeführt, um die Reaktion von biologischen Systemen – also Tieren und Menschen – auf Belastung zu beschreiben, erklärt Werner Stangl, Professor für Psychologie und Pädagogik an der Universität Linz.

    Der Zusammenhang zwischen Stress und evolutionärer Fortentwicklung lässt sich schon an einer einzelnen Zelle erkennen. „Allerdings bedeutet Stress für eine Zelle nicht das Gleiche wie für den Menschen“, erklärt Zoophysiologe Rüdiger Paul von der Universität Münster. „Beim Menschen spricht man von psychosomatischem Stress, während die Zelle unter physiologischem Stress leidet.“

    Für eine Zelle bedeutet Stress also keinen vollen Terminkalender, sondern mechanischen Druck, erhöhte Temperatur oder die Anwesenheit von Schwermetallen. Während der gestresste Mensch Kopfschmerzen bekommt, entstehen in der Zelle aggressive Sauerstoffradikale, die signalisieren, dass etwas nicht in Ordnung ist. Sind solche Sauerstoffradikale nicht da, ist die Zelle im Normalzustand und hat keinen Stress – vergleichbar mit einem entspannten Spaziergang in der Mittagspause.

    Jede gesunde Zelle produziert Proteine aus 20 verschiedenen Bausteinen, den Aminosäuren. Der Bauplan jedes Proteins ist im Genom, dem Erbgut, in Form von DNA kodiert. Die Proteine halten praktisch alle Lebensfunktionen aufrecht: die Zellatmung, den Import von Nahrung und den Export von Abfällen. Und sie unterstützen auch die Kommunikation zwischen den Zellen.

    Um diesen vielfältigen Funktionen gerecht zu werden, müssen die Proteine richtig aufgebaut und gefaltet sein. Die Bauanleitung für jedes Protein ist in der DNA festgeschrieben und wird von großen Molekülkomplexen gelesen und umgesetzt.

    Mutationen in der DNA, sozusagen Schreibfehler im Code des Erbgutes, die etwa durch UV-Strahlung entstehen, können zu verändertem Wortlaut in der Anleitung führen – und damit zu einem anderen Bauprodukt, das sich nicht mehr so faltet, wie es sollte. Das zu verhindern ist die Aufgabe der Chaperone (engl.: Anstandsdame), größerer Moleküle, die die Faltung überprüfen und falsch gefaltete Proteine in die richtige Form zwingen oder dafür sorgen, dass sie abgebaut werden. Chaperone puffern damit die eigentlich vorhandene genetische Variabilität ab – und nehmen der Evolution so die Grundlage.

    Unter Stress sieht die Situation anders aus: Während der Mensch bei Stress eine Kopfschmerztablette einnimmt, setzt die Zelle ihre Stressantwort in Gang. Dann sind die Chaperone so sehr damit beschäftigt, Zellschäden, die etwa durch Hitze oder Schwermetalle entstanden sind, zu korrigieren, dass sie den Aufbau anderer Proteine nicht mehr kontrollieren und korrigieren können.

    Doch das ist nicht von Nachteil: Die zuvor „unterdrückte“ genetische Variabilität wird nun sichtbar. Es entstehen neue Proteine, die aufgrund einer veränderten Struktur neue Funktionen übernehmen können. So entstehen neue Möglichkeiten, die sich gegenüber anderen als vorteilhaft erweisen und so weiter bestehen können – es findet also Evolution statt.

    Erfährt eine Zelle direkt beim ersten Mal extrem hohen Stress, dann stirbt sie: Sie ist der plötzlichen Belastung nicht gewachsen. Ebenso wie der Mensch „lernt“ auch die Zelle gewissermaßen, besser mit Stress umzugehen, je öfter sie ihm ausgesetzt ist: Erfährt sie zuvor längerfristig einen schwachen Stress, dann führt das zur Aktivierung der Stressantwort, und sie ist gewappnet für kommende größere Angriffe.

    Diese Vorsorge lohnt sich aber nur für Zellen, die öfter unter Stress stehen. „Die Bildung von Chaperonen ist sehr energieaufwendig, es wäre nicht wirtschaftlich, sie vorrätig zu bilden“, sagt Zoophysiologe Paul. „Außerdem sind sie auch hinderlich – eine Anstandsdame kann man schließlich nicht in jeder Situation gebrauchen.“ Volker Löschcke, Professor für Ökologie und Genetik an der Universität Aarhus in Dänemark, präzisiert: „Chaperone können zum Beispiel bei der Bekämpfung von Krebs hinderlich sein, da sie eine Abwehr stimulieren, die nicht erwünscht ist.“

    Obwohl die Anstandsdamen also manchmal im Weg stehen, gibt es sie schon sehr lange: „Chaperone sind fast so alt wie das Leben selbst“, erklärt Martin Feder, Evolutionsbiologe an der Universität Chicago. „Alle bekannten Organismen, sogar die primitivsten Archaebakterien, haben Chaperone.“

    Dass Chaperone einen so frühen Ursprung haben, in so vielen verschiedenen Organismen vorkommen und sich evolutionär so lange behaupten konnten, macht deutlich, dass ihre Anwesenheit einen klaren Vorteil bringen muss – sonst hätten sie nicht so lange überlebt. „Zudem sind sie seit ihrem Ursprung relativ unverändert, was typisch ist für Gene, die eine sehr wichtige Funktion im Zellhaushalt haben“, so Löschcke. Und eine dieser wichtigen Funktion könnte eben auch die Fortentwicklung unter Stress sein.

    Quelle: http://www.handelsblatt.com/technologie/medizin/stress-als-motor-der-evolution;2047580;0 (08-09-25)






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