Alle Lebewesen haben ein Nervensystem und fest verdrahtete Schaltkreise, die durch einen auslösenden Reiz ausgelöst werden, wobei die Hauptaufgabe des Nervensystems darin besteht, sensorische Rezeptoren mit motorischen Effektoren zu verbinden. Diese Verbindungs- und Koordinierungstätigkeit kann jedoch mehr oder weniger ausgeklügelt sein, da das Nervensystem während der Reizwahrnehmung sensorische Eingaben aus mehreren Quellen miteinander verbinden kann, wodurch eine Art Bild oder Darstellung der Umwelt entsteht. Diese Fähigkeit, interne Repräsentationen zu bilden, zu speichern und zu nutzen, wird als Kognition bezeichnet, aber sie ist nicht nur beim Homo sapiens vorhanden, sondern auch bei vielen anderen Tieren. Was das Gehirn des Homo sapiens jedoch auszeichnet, ist die Fähigkeit, Repräsentationen zweiter oder sogar höherer Ordnung zu erzeugen, d. h., der Mensch kann mit den Repräsentationen spielen und sie anders assoziieren, als sie in der Realität unmittelbar vorkommen. Am wichtigsten ist, dass das menschliche Gehirn Emotionen, also Repräsentationen x-ten Grades, erzeugen kann, wenn ein sensorischer Input einen Reflexkreislauf auslöst. In diesem Zusammenhang darf man eine Emotion nicht mit dem Reiz verwechseln, denn man rennt nicht vor dem Löwen weg, weil man Angst hat, sondern weil man rennt oder am liebsten rennen würde, fühlt man Angst. Emotionen können durch Sprache und Kultur objektiviert, durch die Vorstellung von Details vertieft oder verallgemeinert werden, indem sie in eine Geschichte oder einen Mythos gekleidet werden. Damit ist das Rätsel des Bewusstseins nicht gelöst, aber es lässt sich nachvollziehen, was in einem solchen Fall in den einzelnen Hirnregionen passiert. Das Bewusstsein ist etwas, das im Gehirn erzeugt wird, es basiert auf vergangenen Erfahrungen, und diese müssen nicht einmal die eigenen sein, obwohl Emotionen persönlich sind, sondern das Material dafür kann aus kollektiv geteilten oder gestalteten Repräsentationen stammen. Das menschliche Bewusstsein erzeugt nicht nur Reaktionen auf Reize, sondern formt aus ihnen eine Erfahrung. Erst dadurch kann der Mensch eine Situation analysieren und die Folgen verschiedener Handlungsalternativen abwägen, d.h., der Mensch ist nicht Automatismen ausgeliefert, sondern hat in jeder Situation Zugriff. Die Schattenseite des Bewusstseins ist jedoch, dass das Bewusstsein auch die Illusion vermittelt, dass man jederzeit alles unter Kontrolle hat, d.h., dass der Mensch in der Lage ist, seiner biologischen Maschine bewusst zu schaden. Menschliche Emotionen wie Egoismus, Gier, Narzissmus oder andere destruktive Verhaltensweisen sind also gar nicht natürlich, sondern selbstbewusste Entscheidungen, wobei das Bewusstsein auch schon Erzählungen bereithält, wie man solche Emotionen zügeln kann: Moral oder Gewissen.
Literatur
LeDoux, Joseph (2021). Bewusstsein. Die ersten vier Milliarden Jahre. Stuttgart: Klett-Cotta.