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Wenn Menschen schreien, geht es nicht nur um Gefahr

    Bei vielen Arten signalisieren Schrei-Rufe die affektive Bedeutung von Ereignissen für andere, wobei angenommen wird, dass Schrei-Rufe im Grunde alarmierender und furchteinflößender Natur sind, um potenzielle Bedrohungen zu signalisieren, mit sofortiger, unwillkürlicher und genauer Erkennung durch die Wahrnehmenden. Schreie sind beim Menschen aber auch Ausdruck von Freude oder Begeisterung. Daher sind Schrei-Rufe in ihrer affektiven Signalisierungsnatur vermutlich vielfältiger als nur auf die ängstliche Alarmierung einer Bedrohung beschränkt. Bisher ging man davon aus, dass das kognitive System von Primaten und Menschen speziell darauf abgestimmt ist, Signale von Gefahr und Bedrohung zu erkennen, doch im Gegensatz zu Primaten und anderen Tierarten scheint sich die Schrei-Kommunikation des Menschen im Verlauf der Evolution weiter diversifiziert zu haben.

    Frühholz et al. (2021) haben verschiedene psychoakustische, perzeptive Entscheidungs- und Neuroimaging-Experimente beim Menschen durchgeführt, um die Existenz von mindestens sechs psychoakustisch unterscheidbaren Typen von Schrei-Rufen sowohl alarmierender als auch nicht-alarmierender Natur zu demonstrieren. In diesen Experimenten wurde Teilnehmer gebeten, positive und negative Schreie auszustoßen, wie sie in verschiedene Situationen hervorgerufen werden können, wobei eine zweite Gruppe von Probanden die emotionale Natur der Schrei-Rufe bewerten und sie in entsprechenden Kategorien klassifizieren sollte. Während sie diese Schreie hörten, wurde ihre Hirnaktivität hinsichtlich Wahrnehmung und Erkennung sowie Verarbeitung und Zuordnung der Laute mit funktioneller Magnetresonanztomografie gemessen, wobei die Hirnareale im vorderen Großhirn, in der Hörrinde und im limbischen System bei erfreuten bzw. nicht alarmierenden Schrei-Rufen viel aktiver und stärker vernetzt waren als bei Alarm-Rufne. Man unterschied dabei sechs emotional unterschiedliche Schrei-Typen, die Schmerz, Wut, Angst, Vergnügen, Traurigkeit und Freude signalisieren. Es zeigte sich, dass die ZuhörerInnen auf nicht-alarmierende und positive Schreie rascher, genauer und hinsichtlich ihrer Hirnaktivität empfindlicher reagierten, als wenn es um Alarmschreie gibt, d. h., die neuronale Verarbeitung von Alarmschreien im Vergleich zu Nicht-Alarmschreien während einer impliziten Verarbeitungsaufgabe löste nur minimale neuronale Signale und Konnektivität bei den Wahrnehmenden aus, entgegen der früheren Annahme eines Bedrohungsverarbeitungsbias des neuronalen Systems von Primaten. Diese Befunde zeigen auch, dass Schrei-Rufe in ihrer signalisierenden und kommunikativen Natur beim Menschen vielfältiger sind als bisher angenommen, und im Gegensatz zu einem häufig beobachteten Bedrohungsverarbeitungs-Bias in Wahrnehmungsdiskriminierungen und neuronalen Prozessen zeigte sich, dass insbesondere Nicht-Alarm-Schreie und positive Schreie eine höhere Effizienz in beschleunigten Diskriminierungen und der impliziten neuronalen Verarbeitung verschiedener Schrei-Typen beim Menschen zu haben scheinen. Offenbarh schreit nur der Mensch, um auch positive Emotionen wie große Freude und Vergnügen zu signalisieren, d. h., im Vergleich zu Alarmrufen sind die positiven Schreie in der Evolution mit der Zeit immer wichtiger geworden, was seine Ursache in den kommunikativen Anforderungen der zunehmend komplexeren sozialen Beziehungen des Menschen haben dürfte.

    Literatur

    Frühholz, S., Dietziker, J., Staib, M. & Trost, W. (2021). Neurocognitive processing efficiency for discriminating human non-alarm rather than alarm scream calls. PLoS Biology, 19, doi:10.1371/journal.pbio.3000751.