In der gegenwärtigen akademischen Psychologie entwickeln WissenschaftlerInnen ihre Forschungen und Ideen in der Regel unter Rückgriff auf die Arbeit anderer zeitgenössischer und vorangegangener PsychologInnen und unter Beachtung bestimmter Konventionen des Fachgebiets, die im aktuellen Paradigma mehr oder minder festgeschrieben sind. Krpan (2020) bezeichnet diese Variante der Psychologie als connected psychology, weil in ihr der Schwerpunkt darauf liegt, verschiedene Forschungsergebnisse und Ideen, die schon von anderen hervorgebracht worden waren, miteinander zu verbinden, etwa durch das Aufzeigen, wie diese durch Referenzierung miteinander in Beziehung stehen. Auch wenn dadurch das psychologische Wissen vielleicht verbessert wird, ist dadurch jedoch die Gesamtmenge des Wissens, das produziert werden könnte, aber einschränkt und daher das Potenzial zur Verbesserung des Verständnisses psychologischer Phänomene begrenzt.
Es sollte daher neben der gegenwärtig bestehenden auf diese Weise vernetzten Psychologie auch eine Psychologie etabliert werden, die disconnected ist, also gewissermaßen sich abseits dieser traditionellen Forschung entwickelt. Die traditionelle Forschung leidet unter bestimmten Konventionen, vor allem darunter, dass die Befunde der einflussreichsten Fachleute bevorzugt berücksichtigt werden und originelle Ideen vernachlässigt werden. Bekanntlich stammen viele bahnbrechende Erkenntnisse in vielen Wissenschaften von Außenseitern.
Ähnliche Überlegungen stammen von Azoulay et al. (2019), die behaupten, dass erst das Ableben der Koryphäen den Disziplinen erlaubt, sich in neue Richtungen zu entwickeln und die Grenzen des Wissens zu erweitern. Schon Stangl (1990) wie allerdings darauf hin, das die unterschiedliche Interpretierbarkeit eines herrschenden Paradigmas durch den einzelnen Wissenschaftler innerhalb der scientific community jenes zentrale Merkmal ist, durch das es überhaupt in der Wissenschaft zu Veränderungen, d.h. sogar Revolutionen, kommen kann. Erkenntnisgewinn in den Wissenschaften kommt daher nicht allein durch die Prüfung und Falsifizierung von Hypothesen, die durch neue Hypothesen, die ebenfalls zu testen und zu falsifizieren sind, ersetzt werden, zustande, sondern durch wissenschaftliche Umbrüche bzw. Paradigmenwechsel, also letztlich durch ein Aussterben der WissenschaftlerInnen, die bestimmte Hypothesen vertreten.
Literatur
Azoulay, Pierre, Fons-Rosen, Christian & Graff Zivin, Joshua S. (2019). Does Science Advance One Funeral at a Time? American Economic Review, 109, 2889-2920.
Krpan, Dario (2020). Unburdening the shoulders of giants: a quest for disconnected academic psychology. Perspectives on Psychological Science, doi:10.1177/1745691620904775.
Stangl, W. (1990). Stichwort: ‚Falsifikation‘. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik.
WWW: https://lexikon.stangl.eu/2009/falsifikation/ (90-05-28)