Die autobiografische Erinnerung stellt das Rohmaterial für die Konstruktion der individuellen Lebensgeschichte dar. In einer Vielzahl von Studien wurde erforscht, auf welche Weise das Erinnern dazu dient, das Selbstbild zu formen und der Biografie einen roten Faden zu geben. Dabei zeigt sich, dass unsere Erinnerungen eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Aufrechterhaltung unseres Identitätsgefühls spielen. Wir konstruieren unser Selbst wesentlich über die Art und Weise, wie wir unser Leben erzählerisch organisieren und interpretieren.
Diese Lebensgeschichten besitzen jedoch keine statische Konstanz, vielmehr sind sie einem ständigen Wandel unterworfen, da unser Gedächtnis flexibel und anpassungsfähig ist. Folglich muss auch das Gedächtnis in seiner Funktionsweise als flexibel betrachtet werden. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Funktionsweisen des menschlichen Gehirns zu erforschen, die diesen Prozess ermöglichen. Die Art und Weise der Speicherung persönlicher Erinnerungen im Gehirn gewährleistet deren fortwährende Lebendigkeit.
Eine Erinnerung wird nicht isoliert an einem bestimmten Ort im Gedächtnis abgelegt, sondern in ein großes neuronales Netzwerk eingeflochten. Dieses Netzwerk ist ständigen Veränderungen unterworfen, da neue Informationen, Assoziationen und Bedeutungen hinzukommen. Die Modifikation dieser Verknüpfungen im Netzwerk impliziert, dass das Gedächtnis nicht lediglich ein reproduktives, sondern ein kreatives Vermögen darstellt. Erinnerungen werden ständig umgeformt, erweitert und an den aktuellen Kontext angepasst.
Diese Veränderung ist allerdings keine Fehlfunktion der Erinnerung, sondern eine ihrer wesentlichen Aufgaben. Denn Erinnern ist weit mehr als das Festhalten von Vergangenem, es dient vielmehr der Sinnstiftung, der Identitätsbildung und der Orientierung in der Gegenwart. In Experimenten lässt sich zeigen, dass das automatische Erweitern und Ausschmücken von Erinnerungen sogar ein Zeichen für ein gut funktionierendes Gedächtnis sein kann. Es ist demnach als normal zu betrachten, dass sich unsere Erinnerungen in einem steten Prozess der Veränderung befinden. Dieser Prozess ist essentiell für unser Selbstverständnis und unsere Fähigkeit, uns in der Welt zu verorten.
Stangl, W. (2017, 25. November). Identitätsfindung im Jugendalter. [werner stangl]s arbeitsblätter.
https://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/PSYCHOLOGIEENTWICKLUNG/Identitaet.shtml